Literarisches

Die Wehklagerin

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„Kein Schwanz ist so hart wie das Leben“, pflegte meine Großmutter zu sagen, wenn Trost für uns Kinder vonnöten war. Ich glaubte ihr nicht, denn etwas Härteres als Onkel Manfreds Rute, die er mir nachts zwischen die Kiefer zwängte, konnte ich mir lange Zeit nicht vorstellen. Aber ich war ja noch jung und wusste nicht Bescheid. Trotz dieser unsanften Behandlung in zartem Alter, bin ich zeitlebens eine Mimose geblieben. Was andere Leute als lässliche Unannehmlichkeit abschütteln, wirft mich für Wochen nieder. Ich hüte meinen Schmerz wie einen Schatz. Ein überflüssiges Unterfangen, denn wer würde ihn mir schon nehmen wollen? Die…

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Aus den Ohren, aus dem Sinn

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Eigentlich liegt das Dröhnen des Lachens über meinen eigenen Witz sorgsam gefaltet und auch sonst schonend aufbewahrt in einer Kiste aus kaltem Metall. Doch heute schwirrt ein einzelnes Echo im Zimmer umher. Ich hasse Unordnung, denke ich und drehe mich unbehaglich auf meinem Bürostuhl herum. Das Echo ist derart leise, dass ich es kaum wahrnehme. Wer mich kennt, weiß, dass ich nicht so leicht zu erschüttern bin, aber dieser blasse Ton lässt mich erschaudern. Zum Teufel mit den feinen Sinnen! Er erinnert mich schmerzhaft an vergangene Unflätigkeiten. Dinge, die zu ihrer Zeit durchaus nicht unangemessen schienen, die, von heute aus…

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Pechmarie

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Ich habe es satt, mein Gesicht jeden Tag im Spiegel älter und grauer werden zu sehen. Deshalb habe ich ihn heute zerschlagen. Das bringt sieben Jahre Pech, heißt es. Darauf freue ich mich. Denn das Glück habe ich ebenfalls satt. Ein launisches Ding, das ohnehin nie da ist, wenn man es nötig hätte. Wenn ich es mir aussuchen könnte, hätte ich lieber sieben Jahre lang Bitumen. Das klingt gemütlicher, und auf Gemütlichkeit lege ich Wert. Aber ich will keine Ansprüche stellen. Ich bin gespannt, wer mir das Pech bringt. Womöglich gibt es einen extra Pechboten. Ob ich das ganze Pech…

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Prominenz und Obskurität

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An einem Tag, der sich so anfühlte wie der heutige, ging ein Mann, in Statur und Alter mir nicht unähnlich, über eine Straße, die auch meine hätte sein können. Auf der gegenüberliegenden Seite angekommen, blieb der Mann stehen, nahm die Zigarette, die hinter seinem Ohr klemmte, und zündete sie an. Zwei tiefe Züge und der Tag lächelte ihm freundlich zu. Eine Gruppe Schulkinder, angeführt von einer resolut wirkenden Mittzwanzigerin, ging an ihm vorbei. Er richtete sich zu voller Größe auf und verströmte Rauch wie Kessel voll mit heißem Teer. Der Mann hörte die Lehrerin sagen: „Und wenn ihr nicht aufpasst,…

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Das Ende des Sommers

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Ich recke meine Hände der Decke entgegen. Das ist ein weiter Weg, wenn man auf dem Rücken liegt. Auf halber Strecke verlässt mich die Kraft, die Arme fallen links und rechts neben meinem Körper herab und bleiben liegen. Die kleinsten Kleinigkeiten erschöpfen mich dieser Tage: ein Atemzug, ein Wimpernschlag, eine zu rasche Bewegung des Daumens. „Wer rechtschaffen müde ist, der kann auch schlafen“, sagt die Mutter zu ihrem Kind und legt ihm Münzen auf die Augenlider. „Es gibt doch Pillen gegen alles, geh zum Arzt, der wird dir schon was aufschreiben“, sagt der Hase zum Igel, der plattgefahren am Straßenrand…

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Im Viertel

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Das Leben da draußen hat schon wieder den Beiklang von Normalität. Menschen flanieren, Rentner durchwühlen die Mülleimer, zwei Medikamentenabhängige streiten um die letzte Tablette in der Packung, Rollerfahrer brausen vorüber. Ein Prediger im stockfleckigen Gewand richtet das Wort an die Passanten, die sich zögernd im Halbkreis um ihn sammeln. Man kennt ihn im Viertel. „Hört mich, Ehemänner und Geliebte! Hört mich, ihr, die ihr an den Brunnen steht und durstig ins Wasser seht, hört mich an! Ihr Darbenden, seid umarmt, ihr Armen der Welt! Ihr Hungrigen sollt gespeist werden, mit Worten wie Fladenbrot und Fisch, tausendfach soll euer Schmatzen die…

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Ein Praktikum

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Es verhält sich so, dass manche wissen wollen, wo etwas herkommt und andere, wo es hingeht. Ein Wasserfall ist da gar kein schlechtes Beispiel. Noch dazu mit Abendrot und Bäumen, die sich bereits zur Nacht geschwärzt haben. Da fürchtet sich der ein oder andere, denn in der Dunkelheit wittert man Gefahren, wenn man entsprechend gestrickt ist. Ich hingegen fürchte das, was zu sehen ist. Das Verborgene ist ja meist selbst ängstlich. Warum würde es sich sonst in dunklen Winkeln herumdrücken? Andererseits unterschätzt man die gut beleuchteten Gefahren oft schon wegen ihrer Sichtbarkeit. Alles hat eben seine Nachteile. Vielleicht mache ich…

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Musca a mortuis

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Splish-splash, der Bus für alle fährt durch die Pfütze. Meine Hosenbeine nass, als wäre ich durch Kuvertüre gewatet. Auf die Schnelle die Maske übergezogen, nicht bemerkt, dass ich mir eine Fliege eingefangen habe. Ich atme aus und töte sie mit Kohlendioxid. Ihre Flugbahn wird zunehmend erratisch. Dann erschlafft sie ganz. Die Beine durchweicht, spitze Ich die Lippen und balanciere den leblosen Fliegenkörper auf meinem Schnurrbart. Mir will nicht einfallen, was ich keinesfalls vergessen durfte.

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Alte Geschichten aus Bad Sodom

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„Störe meine Greise nicht!“ Die Stimme des Pflegedienstleiters dröhnte durch den Park, dass die Pfosten wackelten, an denen die Lautsprecher befestigt waren. Die Gruppe alter Damen zuckte unter dem Gebrüll zusammen. Einige umklammerten verängstigt ihre Turnbeutel, andere verkrochen sich hinter Formschnittbäumen und sahen voller Sorge zum geöffneten Fenster des Büros hinauf. Veronika Duschek atmete tief ein und reckte trotzig das Kinn. Heute war ihr großer Tag. Das erste Training der Damen-Beachvolleyball-Mannschaft des Seniorenwohnstifts „Eichenhain“ in Bad Sodom stand bevor, und sie würde es sich unter keinen Umständen von diesem Despoten in Birkenstocklatschen zu Nichte machen lassen. Monatelang hatte sie die…

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Nüchtern und leicht

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Ein Vogel wollte, (der Vogel rollte die Augen wie einer, der nicht wirklich will) also, ein Vogel wollte Hochzeit feiern; als er jedoch hörte, dass der Wald kein Mischwald sei, war er betrübt und begann lang- doch unaufhaltsam, seinen Entschluss im Besonderen und Entschlüsse allgemein zu hinterfragen. „Wer“, fragte er seine Braut, ohne eine Antwort zu erwarten, „wer kann mir ein Tier nennen, das Freude an Monokulturen hätte?“ „Der Borkenkäfer“, schlug seine Zukünftige vorsichtig vor. „Der Borkenkäfer liebt es einheitlich, hübsch, überschau- und berechenbar.“ „Diese speziellen Sechsbeiner zählen nicht“, wischte der Vogel den Einwand vom Tisch, denn der Verzehr von…

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