Literarisches

Böses Erwachen

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Müde und unzufrieden blinzelte der Tyrann durch das Schlüsselloch und betrachtete sein Reich. In den Jahren seiner Herrschaft hatte er es ausgehöhlt und vergrämt, achtlos herumliegen lassen und manchmal, wenn ihn der kindische Zorn überkam, hatte er mit dem Fuß aufgestampft und gegen einen Zeitungsständer getreten. Vom alten Glanz war nichts mehr übrig. Sogar sein goldener Suppenlöffel war stumpf geworden und die Fleischbrühe schwappte unappetitlich darauf herum. Der Tyrann wischte mit dem Daumen die Abdeckung über das Schlüsselloch, ging zu seinem Schreibtisch und föhnte lustlos sein Toupet. Ihm war nach Heiterkeit und Schmeicheleien zumute, also klingelte nach seinem unsichtbaren Freund….

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Jahreswechsel

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Es ist die letzte Nacht des Jahres, der kleine Silvester und seine Schwester gehen durch die Straßen und betrachten von außen die Fenster. Wie schön, sagt die Schwester, wie still und friedlich, wie anheimelnd alles wirkt. Der Schein trügt, das Bild täuscht, der Eindruck lügt. Wenn man ganz still bleibt, und die beiden bleiben ganz still, hört man die Menschen husten. In der einen Wohnung isst Familie Kummer ein spätes Mahl, in der nächsten lebt der alte Kapitän Seebär mit seiner jugendlichen Geliebten, gleich daneben das keusche Fräulein Pilzhut und ihr Hund Jutta in einer Zweckgemeinschaft. Sie muss in Heimarbeit…

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Bescherung

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Marianne Pelzfuß zählt die Zeit bis zur Bescherung in eigenen Einheiten. Immer, wenn sie daran denkt, ist eine Präambel vergangen. Wieviele Präambeln sie noch abwarten muss, ist eine Überraschung. Marianne Pelzfuß versucht seit Jahren, sich die Reihenfolge der Dinge einzuprägen, aber sie bringt immer alles durcheinander. Die Bescherung. Nur einmal im Jahr freut man sich darauf, ansonsten gilt es, sie zu vermeiden. Der Sohn Gottes wird geboren und ein paar Monate später ist er bereits 33 Jahre alt und wird umgebracht. Er sollte als Säugling schon umgebracht werden, aber das klappte nicht, weil Heuchel und Meuchel, die beiden Raben, das…

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Aus den Kindheitserinnerungen

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Zum elften Geburtstag bekam ich von meinen Eltern eine Fotoausrüstung geschenkt. Das war aber nicht irgendeine Fotoausrüstung, sondern eine Mikrokamera für Detektive. Ich beschloss, die Kamera in der Kloschüssel zu installieren und schoss ein paar Probeaufnahmen meines Hinterns. Ungefähr eine Woche später klopfte ich bei meiner Schwester Inge. Sie ist neun Jahre älter als ich. Ich sagte, ich hätte ein Gedicht für sie geschrieben und Inge bat mich hereinzukommen und es vorzulesen. Sie stellte ihren Plattenspieler leise und ich begann: Ich liebe dich, doch könnte ich wählen, ich wäre lieber ich: Ich sehe, wie dich die Hämorrhoiden quälen; ich sehe…

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Hartmut und die Liebe

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Hartmut Pelzfuß haderte mit der Liebe. Schon immer, wenn er ehrlich war und das war er. Zumindest bemühte er sich redlich darum. Als junger Mensch hatte er freilich hin und wieder Leidenschaft verspürt, doch war diese stets flüchtig gewesen und es hatte nie lange gedauert, bis sich beim Objekt seiner Begierde allerhand unangenehme Kleinigkeiten einstellten, die mit spitzen Zähnchen an seiner Begeisterung nagten. Hartmut erinnerte sich deutlich an ein Mädchen mit raspelkurzem Haar, blitzenden Augen und kolossalem Hintern. Wenn er ein wenig in seiner Erinnerung kramte, konnte er noch ihre Küsse schmecken, eine Mischung aus Apfelsaft und Gewitter. Wenn sie…

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Das Erbe der großen Wirklichkeit

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Der letzte Mensch auf Erden ruft dem Baum vor seinem Fenster Unflätigkeiten zu, Schmelz in der Stimme und Spelze zwischen Zahnfleisch und Schneidezahn. Der Widerhall kommt postwendend: „Willst du einen Job, eine sinnvolle Betätigung, dann stelle dich in die Mitte deines Wohnzimmers, beuge dich vor und warte darauf, was passiert!“ Da realisiert der letzte Mensch auf Erden, dass auch die heimische Flora nicht alle Antworten kennt, eine Erkenntnis, die ihn zum Zahnstocher greifen lässt, jetzt, da alles auf ein rasches Ende hindeutet. Wie bekomme ich meine Zähne wirklich sauber, so kurz vor Schluss? Und Erinnerung an Emily, die noch einmal…

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Am Lagerfeuer – eine Herbstgeschichte

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Woody Allen, Uri Geller, Uriella oder irgendein anderer Spitzbold, Scharlatan und Aushilfsheiratsschwindler wollte Stockbrot essen, diesen faden Haufen Teig, um Holz geklatscht. Uri Geller ließ uns die Löffel in den Händen schmelzen und rief: „Seht den Habicht über unseren Köpfen kreisen. Wollt ihr so sein wie er, wie ich? Ich bin der Habicht und ihr? Ihr nicht.“ Woody Allen schaute betroffen, uns standen die Münder offen, die Löffel waren unbrauchbar. Uriella blinzelte verschwörerisch und blickte jedem einzelnen von uns auf die von Raureif geröteten Nasen. „Es werde Licht!“, rief sie und wir, die wir um die Feuerstelle kauerten und knieten,…

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Schuld und Seuche oder: der verlorene Sohn

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Roman Pelzfuß wurde im zweiten Seuchenjahr geboren. Da dachte man noch, alles würde vorüber gehen, wenn man nur brav wäre und aufeinander Acht gäbe. Oder man lief brüllend durch die Straßen, weil man ein Elend mit Gesicht und nachvollziehbaren Zielen wollte. Man wünschte sich das Früher, aber zu früh sollte es nicht sein, denn da war alles noch schlimmer als heute. Die Brüller wurden von den Wasserwerfern fortgespült und die Folgsamen versteckten sich zu Hause hinter ihren Vorräten. Zurück blieb eine dumpfe Panik, die allen gleichermaßen in die Knochen kroch und darüber versprühten die Jumbojets einen feinen Regen aus Schuldzuweisungen….

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Exclamatio

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An der ersten Tür gebe ich die Jacke ab, an der zweiten ziehe ich meine Schuhe aus. Im Gebäude sind weder Gürtel noch Schnürsenkel erlaubt. Die Verordnung als Motto an der Wand: Tragen Sie bei zu unser aller Sicherheit! Überraschen Sie uns, überraschen Sie sich, leisten sie keinen Widerstand, leisten Sie sich stattdessen den Luxus hingebungsvoller Unterwerfung! Und lang ist mir die Luft ganz still geblieben, ich musst es wohl – wie alle anderen auch – ertragen. Warum haben Sie so lange nicht geschrieben? Ich hatte nichts zu sagen. Im Gang, auf einem unbequemen Stuhl, sitze ich vor der verschlossenen…

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Sicher ist sicher

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Nichts ist so grässlich wie der Klang einer Oboe im Nebel. Vielleicht meine ich auch ein Fagott. Dieses kläglich hupende Ding jedenfalls. Einem vermummten Kalb gleich, das seine Mutter nicht mehr findet, selten zu hören, denn die Hubschrauber brüllen darüber hinweg. Die zerschneiden die Nacht mit ihren Suchscheinwerfern, doch es gibt nichts Besonderes zu entdecken. Aber wer weiß, man muss dennoch nachsehen. Zwischen den gleißenden Dreiecken schreiten schneidig meine Füße dahin, während ich selber mich Zuhause verstecke. Ich bewache meine Gedanken, denn ohne Aufsicht wachsen sie sich schnell zu arglistigen Plänen aus, zu deren Ausführung es mir letztendlich an Verwegenheit…

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