Auch nur ein Mensch

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Danke für die Blume, ein Sträußchen wäre auch zu viel verlangt gewesen, die kann ich gut gebrauchen. Um uns herum das blühende Leben, hinter den Fenstern wird leise gestorben. Der Ventilator bläst einen Hauch. Wer ist dran, wer ist noch nicht versorgt? Einen Ehrenplatz für all jene, die es nicht wahrhaben wollten und die trotzdem das Weite gefunden, wenn auch nicht gesucht haben. Ich sehe meinen Atem, habe ein Auge auf dich geworfen, besorgt, ob du auch vorschriftsmäßig pulsierst. Wie lauten die Vorschriften heute? die Blumenläden sind wohl noch geschlossen, anders könnte ich mir die einzelne Blume nicht erklären. (Wuchert…

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Der müde Mann

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„An manchen Tagen geht es besser als an anderen. Manchmal geht es gar nicht. Wenn sich die Partikel im Raum wieder in Wesen, in menschliche Wesen, in Mitmenschen verwandeln, schießen mir Tränen in die Augen und mein Atem drückt die Lungen von innen gegen den Brustkorb.“ Der Mann richtet sich ächzend von seiner Schlafstatt im Wartehäuschen der Linie 140 auf und steckt sich eine Zigarette an. „Ich wollte längst schon mit dem Rauchen aufhören, aber dann sag ich mir immer, was soll’s, man will so vieles den lieben Tag lang und morgen ist immer noch früh genug.“ Er hustet ergiebig…

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Das Spiel der Jongleure

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Jongleure, wohin man schaut, Jongleure: Auf den Gehsteigen, in der U-Bahnstation, im Bus; Jongleure mit blonden Fusselhaaren, mit schütteren Bärtchen, Nickelsonnenbrillen – Jongleure haben sich, einer Käferplage gleich, in meinem Stadtteil ausgebreitet, grassieren, werfen bunte Bälle oder Keulen in die Höhe. Dem ersten Impuls, die Hände um den Hals des Jongleurs zu legen und zuzudrücken, ist keinesfalls nachzugeben – zu groß die erwartbaren Komplikationen, zu weitreichend die Wirkung, zu gellend die Tat. Dann doch lieber Hände abhacken, mag manch einer vorschlagen, doch auch diesen Zeitgenossen möchte ich mahnend Einhalt gebieten, „Immer langsam mit den jungen Fohlen“ oder ihnen eine vergleichbare…

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Gefiedertes

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Die anderen Vögel brüllen mir ihr Liedchen ins Ohr. DELIRIER DELIRIER DELIRIER! Darüber habe ich bereits mehrfach Zeugnis abgelegt und ich ziehe es heute vor, trotzig zu schweigen. Der Asphalt verwässert sich im Brack der Regenpfützen unter dem Druck meiner Schritte. Eine Zeitungsverkäuferin mit wirrem, strähnigem Haar ruft zähnefletschend Schlagzeilen. WER KOMMT, WER GEHT, 72 HUNDEBISSE. Links und rechts wedeln die Bäume, veredeln die Straßen durch ihren Anblick, schreien sattes Frühlingsgrün. DIE JAHRESZEITEN SIND REGELN, DIE NIEMAND BRECHEN DARF. Der Hund der Nachbarin beschnüffelt mich, knurrt. Ich hebe die Arme und fliege als Vogel davon.

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Herrentag

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Der Mann neben mir pfeift ein Lied hinter seiner Maske; er weiß nicht, was es bedeuten soll. So klingt es jedenfalls. An einem anderen Tag hätte ich ihm zugelächelt und von meinem Großvater erzählt, der, wie er mir einmal in einer schwachen Stunde gestand, immer eine nationalistisch aufgeheizte Schwäche für die Loreley gehabt und schon früh in ihrer Beziehung von meiner Oma verlangt hatte, sich ihr Haar für ihn zu bürsten, wenn sie intim mit ihm werden wollte. Erfolgreich, wenn mir das kurz einzuwerfen erlaubt ist; aus ihrer Ehe entsprangen zahllose Kinder, nicht zuletzt meine Mutter, deren Leben ich meinen…

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Das Märchen meines Seins

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Ich wurde heute vor etlichen Jahren im Zeichen des Kalbs geboren und weil ich eine Glückshaut umhatte, als ich zur Welt kam, so ward geweissagt, dass mir ein ganz außergewöhnliches Schicksal beschieden sei. „Er ist ein Glückskind, es wird schon alles zu seinem Besten ausschlagen,“ hörte ich die Erwachsenen oft staunend raunen, wenn sie mich betrachteten. Die Zeit bis zur Grundschule verbrachte ich zur Belustigung meiner Schwester größtenteils in einem Gitterkäfig, wurde von ihr mit Zigarettenstummeln und Kronkorken gefüttert und immer gerade noch am Leben gehalten. Häufig wurde mein Status als Glückskind auf die Probe gestellt und Familienmitglieder wie auch…

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Der dritte Rang

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Gestatten, Finkenzeller. Bertel Finkenzeller. Meines Zeichens Leiter der Süßwarenabteilung des Traditionskaufhauses Detmold & Detmold. Sie haben doch nicht vor, den Kunstgenuss, die Stille, durch ihr Gekeuche zu stören? Vielleicht möchten Sie eine Halspastille? Von hier kann man, wenn die Zuschauer dauernd husten, kaum das Lachen der Götter über das Geschehen unten auf der Bühne hören. Daran muss man immer denken. Heutzutage. Den meisten ist ja so was schnuppe. Sie sind ja bleich wie eine Schneiderpuppe. Ist es das Virus? Ist es Nervenfieber? Lassen Sie mich einmal erklären: Nichts wäre mir doch lieber, als wenn alle Menschen glücklich wären. Der Diversant,…

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Fashion is my Passion

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Er trug heute wieder einmal seine fleischfarbenen Leggings. Er könne sich in ihnen besser konzentrieren; er sähe die Dinge klarer, wenn er sie trüge. Nicht einer von uns Zwölfen traute sich zu lachen, keiner wollte vortreten und sagen, was wir alle dachten: er sieht in den Dingern unmöglich aus. Die Menschen in den Dörfern, durch die wir zogen, verspotteten ihn sowieso und rotteten sich regelmäßig zusammen, um uns unter Schmähungen und Steinwürfen und Tritten aus ihren Ortschaften zu vertreiben. Unsere Standhaftigkeit und Loyalität wurden ein ums andere Mal auf die Probe gestellt, aber selbst die treuesten unter uns wurden wankelmütig,…

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Absichtserklärung

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Jörg Gufler schließt die Butterbrotdose und hält den Atem an. Dann atmet er aus und wieder tief ein, beginnt zu hecheln, immer schneller, immer schneller. „86% Atemfähigkeit oder Lungenvolumen oder Kapazität, oder so was Ähnliches. Das sei ein guter Wert, sagt der Arzt. Für einen Mann. In meinem Alter.“ Stolz blickt Jörg Gufler in die Runde seiner Mitfahrer, als erwarte er Applaus oder eine andere Form der Anerkennung. Doch die Passagiere im Linienbus nach Fulda sind nicht an seinen medizinischen Testergebnissen interessiert, wie Gufler missbilligend zur Kenntnis nimmt. Er versucht, indem er ihr mit dem Zeigefinger in die Seite piekst,…

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Der große Piconelli

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Der stadtbekannte Zauberer Piconelli und sein zahmes Äffchen, dem er beigebracht hatte, kleine Pappschilder in die Höhe zu halten, auf denen motivierende Botschaften wie ‚Liebet einander!‘, ‚Tut Buße!‘, ‚Das Ende ist nah!‘ und, später, als der Lockdown uns schon monatelang in seinem harten Griff hielt, ‚Das Ende ist da!‘ geschrieben waren, hatten heute wieder einen Auftritt in der Fußgängerzone. Wir Kinder liebten den schrulligen Straßenmagier und hätten nicht geglaubt, wenn uns jemand erzählt hätte, dass sich hinter der ebenso freundlichen wie expressiven Maske Piconelli ein fanatischer Apokalyptiker verbarg, dessen Zauberkunststücke keine gekauften und erlernten Taschenspielertricks waren, sondern wahre Zeichen und…

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