Kurzgeschichten

Jahreswechsel

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Also, ich werde mir vorerst kein neues Jahr zulegen. Das alte ist noch gut in Schuss und es gibt keinen Grund, es schon zu entsorgen. Im Gegenteil, nachdem ich mir bis in den Mai hinein Blasen darin gelaufen habe, ist es jetzt gerade richtig bequem und ich finde mich endlich darin zurecht. Diese kapitalistische Propaganda, jedermann brauche ständig ein neues Jahr, will ich nicht länger glauben. Wenn man sparsam und pfleglich damit umgeht, hält so ein Jahr ewig. Na ja, ewig vielleicht nicht, aber, sagen wir, bis Juni auf alle Fälle. Ich werde morgen keck mit meinem alten Jahr herumstolzieren,…

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Früher, ja früher

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Erinnerungen? Pah! Erinnerungen sind etwas für Privilegierte. In meiner Jugend waren wir so arm, wir konnten uns nichts Erinnernswertes leisten. Manchmal schlug uns der Vater mit einem Stock, aber auch nur, wenn er ihn nicht versetzt hatte, um der Mutter Lutschpastillen zu kaufen. An Festtage glaube ich schon mal gar nicht. Unsere Tage der Besinnlichkeit fingen immer erst im Januar an, wenn die Nachbarn ihre Tannen oder Fichten auf den Gehsteig warfen und wir sieben Kinder uns über die am Baum verbliebenen Nadeln hermachten, und mit neidischen und missgünstigen Blicken auf ihnen kauten, bis unsere kleinen Gaumen bluteten. Dieses Jahr…

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Eichmann zur Miete

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Als mein letzter Untermieter an der Franzosenkrankheit verstarb, verbrachte ich die vorgeschriebene Zeit in Trauer. In sieben Minuten weinte ich sieben Tränen und sprach sieben freundliche Worte in seinem Andenken. Anschließend blieben mir noch dreiundzwanzig Minuten, um die Bude wieder in Schuss zu bekommen, denn das Amt würde mir gleich den nächsten schicken. Gerne wäre ich eine Weile alleine geblieben, aber Vorschriften sind eben Vorschriften, und ein wenig plagte mich auch die Neugier, wer der kommende Gast sein würde. Mein Missfallen hätte nicht größer sein können, als kurz darauf Adolf Eichmann vor meiner Tür stand. Er trug einen zu eng…

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Der Nachruf

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Über die Toten soll man nur Gutes sagen. Das ist allgemein anerkannt, auch wenn es Unfug ist. Als würde jeder Makel mit dem Tod abgewaschen und zurück bliebe nichts als Tugend und gutes Benehmen. Der Nachruf auf Helmut Pelzfuß sollte frei von jeder Schönfärberei sein, denn er war ein großer Mann mit wildem Blick und zausem Bart gewesen, der so etwas nicht nötig hatte. Es hatte kein Thema gegeben, über das er nicht aus dem Stegreif eine halbe Stunde hätte referieren können, und er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, genau das zu tun. Zudem war er ein begnadeter Baumeister; landauf landab…

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Zapfenstreich

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Seit einiger Zeit habe ich den Geruch von brennendem Holz in der Nase. Am Abend stehen Menschen beieinander und atmen Wolken in den Himmel. Ein Triller der Flöten, die Trommel wird geschlagen. Ich frage ein Mädchen aus der Nachbarschaft, ob es riecht, was ich rieche. Es schüttelt den Kopf. Es kennt nicht die Gegenwart, wie sollte es, hat kaum Vergangenheit und unendlich scheinende Zukunft. Ich bin nicht jung, war es seit 40 Jahren nicht. Selber, selber, lachen alle Kälber, grüßen die Soldaten. Ära-Ende, Zeitenwende, was brennt, was kommt, kann keiner wissen.

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Das Lied vom Glück

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Philip Pelzfuß steht am Tor und sieht den Menschen nach, die an seinem Haus vorüberziehen. Bepackt mit unterschiedlichen Habseligkeiten stapfen sie durch den Schnee auf dem Weg in eine goldene Zukunft. „Wieviele sind es?“, ruft seine Frau aus der Küche. „Ein paar Hundert oder ein paar Tausend“, antwortet Philip Pelzfuß. „Ich bin doch so schlecht im Schätzen, Elfriede. Sie singen jedenfalls alle.“ „Das höre ich. Es ist ja ohrenbetäubend.“ Elfriede Pelzfuß kommt an den Gartenzaun, ein Geschirrtuch über der Schulter. Sie wischt sich die Hände an ihrer Kittelschürze ab und legt ihrem Mann dann eine auf die Schulter. „Wollen wir…

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23

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Die Dreiundzwanzig. Warum die Dreiundzwanzig? Was hat es mit dieser ominösen Zahl auf sich? Oft werden mir Fragen wie diese gestellt, und ebenso oft antworte ich, dass das Mysterium der Dreiundzwanzig nicht in ein paar dahingeworfenen Erklärungen wirklich erfasst werden kann. Die Dreiundzwanzig ist nicht nur Zahl, nicht nur einfaches Quantitätssymbol, sondern Religion, Glaubensinhalt und Mittel zur Macht schon seit Jahrtausenden. Menschen und Tiere werden im Zeichen der Dreiundzwanzig geopfert. Die Dreiundzwanzig ist die Zahl der Weltherrschaft. Am Anfang meiner Beschäftigung mit der Dreiundzwanzig stand die Beobachtung, dass mir die Dreiundzwanzig leichter von den Lippen ging, als jede andere Zahl,…

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Lustig, lustig

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Mich juckt es in den Fingern. Das klingt an sich nicht schlimm. Als hätte ich große Lust, eine bestimmte Sache in Angriff zu nehmen und könne es kaum erwarten, müsse nur noch eben etwas anderes erledigen, das keinen Aufschub duldet. Tatsächlich plagt es mich den ganzen Tag und einen großen Teil der Nacht. Mein sehnlichster Wunsch ist eine dritte Hand mit Fingern, die nicht von dem Unheil befallen sind und die geplagten kratzen können. Aber die bekomme ich nicht. „Das zahlt die Kasse auf keinen Fall“, meint mein Hausarzt, ein dicker, älterer Herr mit weißem Bart, der in der Weihnachtszeit…

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Kaum-Ich und Nicht-Ich diskutieren die Lage

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  K-I: Hör mal, wie meine Kniescheibe knackt. N-I: Schlimm. K-I: Wenn Du ein Selbstmordattentäter wärst, welches Ziel würdest Du wählen? N-I: In Deutschland, meinst Du? K-I: Ja, in Deutschland – was wäre Dir einen Angriff wert? N-I: Also es wäre bestimmt irgendwas in Berlin. Woanders lohnt es sich ja nicht. K-I: Der Kölner Dom vielleicht. N-I: Würde mich nicht jucken. Das ist doch das Problem des Föderalismus, es lohnt nicht, irgendetwas zu zerstören. Allzu viele allgemeingültige Ziele gibt es nicht. Ich meine, wem würde es außerhalb von Münster schon auffallen, wenn eine Atombombe die Innenstadt verwüstete? K-I: Oder Osnabrück….

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Wiedersehen mit McMurphy

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„Das Problem mit euch Empathen ist ja nicht, dass ihr besonders viel fühlen würdet“, sagte McMurphy und spuckte in mein Weinglas. Ich betrachtete die gelblich-weißen Bläschen, die auf der Oberfläche des Weins langsame Kreise zogen. McMurphy räusperte sich und verschloss währenddessen mit Daumen und Zeigefinger beide Nasenlöcher. „Weißt du, was das Problem mit euch Empathen ist? Soll ich es dir sagen?“, fuhr er fort. Da er seine Finger nicht rechtzeitig von der Nase genommen hatte, klang seine Stimme bei den ersten beiden Wörtern albern und ich gluckste. McMurphy schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und die Spuckebläschen zitterten….

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