Kurzgeschichten

Ungnade

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Die Maus setzte sich auf den Rand der Kaffeetasse und schlug die Beine übereinander. „Ich freue mich sehr über Ihren Besuch. Es ist eine Weile her, seit ich jemanden aus dem Mäusevolk gesehen habe.“ Klytamnestra stellte ein Tellerchen mit Käsestücken auf den Tisch und machte eine einladende Geste. Die Maus zuckte mit den Schnurrhaaren und kratzte sich hinter dem Ohr. „Ich fürchte, ich bin nicht zum Plaudern gekommen“, piepste die Maus, zog ein Tablet aus einem kleinen Aktenkoffer hervor und tippte nervös auf dem Bildschirm herum. „Mäuse mögen übrigens keinen Käse. Das sind Ammenmärchen“, fügte sie mit einem raschen Blick…

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Gefiedertes

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Die anderen Vögel brüllen mir ihr Liedchen ins Ohr. DELIRIER DELIRIER DELIRIER! Darüber habe ich bereits mehrfach Zeugnis abgelegt und ich ziehe es heute vor, trotzig zu schweigen. Der Asphalt verwässert sich im Brack der Regenpfützen unter dem Druck meiner Schritte. Eine Zeitungsverkäuferin mit wirrem, strähnigem Haar ruft zähnefletschend Schlagzeilen. WER KOMMT, WER GEHT, 72 HUNDEBISSE. Links und rechts wedeln die Bäume, veredeln die Straßen durch ihren Anblick, schreien sattes Frühlingsgrün. DIE JAHRESZEITEN SIND REGELN, DIE NIEMAND BRECHEN DARF. Der Hund der Nachbarin beschnüffelt mich, knurrt. Ich hebe die Arme und fliege als Vogel davon.

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Keine Taube in der Hand

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Der Mann ließ sich erschöpft auf die Bank fallen. Den Harzer Käse, der dort lag, übersah er. „Ihnen ist nicht zufällig ein Stück Harzer Käse untergekommen?“, gurrte eine Taube. „Er ist mir sehr wichtig.“ Eine klebrige Kühle wanderte vom Hosenboden des Mannes sein Rückenmark hinauf. „Ich sehe es Ihnen doch am Gesicht an, dass sie den Käse haben!“ Das Gurren bekam eine hysterische Note. „Ich habe doch gar kein Gesicht“, erwiderte der Mann und rutschte verstohlen etwas hin und her. Er war müde von der Arbeit und hatte keine Lust, sich mit einer Taube zu unterhalten. „Ksch, ksch, ksch!“, machte…

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Herrentag

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Der Mann neben mir pfeift ein Lied hinter seiner Maske; er weiß nicht, was es bedeuten soll. So klingt es jedenfalls. An einem anderen Tag hätte ich ihm zugelächelt und von meinem Großvater erzählt, der, wie er mir einmal in einer schwachen Stunde gestand, immer eine nationalistisch aufgeheizte Schwäche für die Loreley gehabt und schon früh in ihrer Beziehung von meiner Oma verlangt hatte, sich ihr Haar für ihn zu bürsten, wenn sie intim mit ihm werden wollte. Erfolgreich, wenn mir das kurz einzuwerfen erlaubt ist; aus ihrer Ehe entsprangen zahllose Kinder, nicht zuletzt meine Mutter, deren Leben ich meinen…

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Die Perle Andalusiens

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Marilen Pelzfuß saß auf ihrem engen Balkon, betrachtete die grünliche Fassade des Nachbarhauses, nippte an ihrem Tee und erinnerte sich an eine lange zurückliegende Reise. Ein hagerer Mittvierziger mit rot gefärbtem Haar und säuerlichem Geruch war ihre Begleitung gewesen. Er hatte alles versucht, um mit ihr in Streit zu geraten, doch Marilen hatte bereits am Flughafen beschlossen, zu allem Ja und Amen zu sagen, egal wie langweilig, anstrengend oder fern ihrer eigenen Vorstellung es auch sein möge. Streiten würde sie jedenfalls nicht. „Wir müssen“, meinte ihr Begleiter nach dem Abendessen in einem selbst bei Nacht noch stickigen und heißen Innenhof,…

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Das Märchen meines Seins

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Ich wurde heute vor etlichen Jahren im Zeichen des Kalbs geboren und weil ich eine Glückshaut umhatte, als ich zur Welt kam, so ward geweissagt, dass mir ein ganz außergewöhnliches Schicksal beschieden sei. „Er ist ein Glückskind, es wird schon alles zu seinem Besten ausschlagen,“ hörte ich die Erwachsenen oft staunend raunen, wenn sie mich betrachteten. Die Zeit bis zur Grundschule verbrachte ich zur Belustigung meiner Schwester größtenteils in einem Gitterkäfig, wurde von ihr mit Zigarettenstummeln und Kronkorken gefüttert und immer gerade noch am Leben gehalten. Häufig wurde mein Status als Glückskind auf die Probe gestellt und Familienmitglieder wie auch…

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Die süße Bohne

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Für Viktor Mundschenk war das Leben eine Plage. Er tat sich schwer, morgens aus dem Bett zu kommen und nachts einzuschlafen. Alles dazwischen gelang ihm selten, weshalb er sich scheute, bei neuen Bekanntschaften seinen Vornamen zu nennen. Nicht, dass er viele Leute kennengelernt hätte. Viktor Mundschenk buk gewöhnlich ein ungewürztes Eigenbrot, das er ohne Belag und in Einsamkeit verzehrte. Nur hie und da gönnte er sich eine Weinbrandbohne, und wenn die scharfe Süße seine Backen füllte, wünschte er, es gäbe jemanden, mit dem er diesen seltenen Genuss hätte teilen können. Eines Tages überfiel ihn eine tollkühne Stimmung. Er packte ein…

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Der dritte Rang

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Gestatten, Finkenzeller. Bertel Finkenzeller. Meines Zeichens Leiter der Süßwarenabteilung des Traditionskaufhauses Detmold & Detmold. Sie haben doch nicht vor, den Kunstgenuss, die Stille, durch ihr Gekeuche zu stören? Vielleicht möchten Sie eine Halspastille? Von hier kann man, wenn die Zuschauer dauernd husten, kaum das Lachen der Götter über das Geschehen unten auf der Bühne hören. Daran muss man immer denken. Heutzutage. Den meisten ist ja so was schnuppe. Sie sind ja bleich wie eine Schneiderpuppe. Ist es das Virus? Ist es Nervenfieber? Lassen Sie mich einmal erklären: Nichts wäre mir doch lieber, als wenn alle Menschen glücklich wären. Der Diversant,…

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Ein Stückchen Hand

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Es empfiehlt sich, in guten Zeiten zumindest einen Raum in der Wohnung mit Speckstreifen zu tapezieren, dann hat man in der Not etwas zu knabbern. Aber wer denkt schon in guten Zeiten an die Not? Da flaniert man irgendeinen Boulevard entlang oder lässt in der Abendsonne die Eiswürfel im bunten Getränk klimpern. Dabei lungert das Elend immer an der nächsten Ecke herum. Den Tipp mit den Speckstreifen habe ich übrigens von meinem Onkel Ralf bekommen, zusammen mit einem Briefmarkenalbum. Zu meinem neunten Geburtstag. Onkel Ralf ist Experte für Drangsal. Selbst die todsicheren Dinge gehen bei ihm schief. Trotz eines Lebens…

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Fashion is my Passion

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Er trug heute wieder einmal seine fleischfarbenen Leggings. Er könne sich in ihnen besser konzentrieren; er sähe die Dinge klarer, wenn er sie trüge. Nicht einer von uns Zwölfen traute sich zu lachen, keiner wollte vortreten und sagen, was wir alle dachten: er sieht in den Dingern unmöglich aus. Die Menschen in den Dörfern, durch die wir zogen, verspotteten ihn sowieso und rotteten sich regelmäßig zusammen, um uns unter Schmähungen und Steinwürfen und Tritten aus ihren Ortschaften zu vertreiben. Unsere Standhaftigkeit und Loyalität wurden ein ums andere Mal auf die Probe gestellt, aber selbst die treuesten unter uns wurden wankelmütig,…

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