Das Gefühl

Kennen Sie das Gefühl, von einem Gefühl befallen zu sein, das man nicht näher beschreiben kann, als zu sagen, es fühlt sich so ähnlich an wie starker Harndrang? Nein, kennen Sie nicht? Also, das ist ein Gefühl, das sich so ähnlich anfühlt wie starker Harndrang. Aber Harndrang in einer Situation, in der man ihm keinesfalls nachgeben kann. Beispielsweise vor einem Kinderspielplatz, in einer belebten Fußgängerzone oder während der eigenen Priesterweihe.

Da liegt man auf dem kalten Marmorboden der hiesigen Kathedrale mit ausgestreckten Armen, und die Blase meldet sich. Gut, das wird die Aufregung sein, denkt man zunächst, das vergeht wieder, wenn man sich nur nicht darauf einlässt. Wenig später ist das Gefühl bereits wesentlich dringender. Die Weihe selbst ist gut vorbereitet, man ist mit der Prozedur ausreichend vertraut; man weiß, selbst wenn man auch vor Drang nicht mehr so genau hören kann, was der Bischof gerade im Einzelnen sagt, wo er sich ungefähr im Text befindet, und leider ist das Ende noch nicht in Sicht. Einfach aufzuspringen und zu rufen ‚Macht schon mal ohne mich weiter, ich bin gleich wieder da‘ geht nicht. Das würde zweifellos Anstoß erregen und man wäre vor der Gemeinde, vor den zahlreich versammelten Gästen, vor dem Bischof und nicht zuletzt vor Gott, blamiert.

Ich habe Gott dennoch immer als einen heiteren und humorvollen Gott wahrgenommen; schon zu Schulzeiten wollte sich mir Gott als der kleinliche, rachsüchtige Gott, den meine Religionslehrerin uns frommen Kindern zu vermitteln trachtete, nicht erschließen. Eifersucht und Korinthenkackerei schienen mir letztendlich allzu menschliche Eigenschaften zu sein, Ausdruck einer Persönlichkeit mit gering ausgeprägtem Selbstwertgefühl, und das war nicht der allmächtige, allwissende Gott, der mir vorschwebte. Fügte man jedoch Humor in die Gleichung, ergab vieles Sinn – manch Unerklärliches konnte, wenn man den Faktor Humor bedachte, als deftiger Scherz eines höheren Wesens interpretiert werden.

Nicht nur, aber eben doch auch, solche Überlegungen gaben in meiner Berufswahl den Ausschlag: ich wollte den Menschen eine Sichtweise aufs Leben vermitteln, die ihnen erlauben würde, ihr Schicksal als grundsätzlich lustig wahrzunehmen; ich wollte Lachen in ihr Leben bringen.

Ich lag bäuchlings im Dom und musste pinkeln, lag auf dem Kathedralenboden und glaubte, Gott kichern zu hören. Für den, der wie Er nicht aufs Klo muss, hatte der Anblick meiner Lage durchaus komische Züge. Ich konnte Ihm das Kichern nicht einmal verübeln; wer wäre ich, Ihm irgendetwas zu verübeln? Mein Harndrang war Sein Wille.

Sicherlich hätte ich auch vor der Weihe noch einmal gehen können, aber ich hatte verschlafen, war in Eile gewesen, bereits in vollem Ornat und hatte gedacht, ‚ach, das wird schon irgendwie gehen‘.

Oh, wie hatte ich mich getäuscht, nichts ging mehr, selbst Aufspringen und mich entschuldigen waren in meinem Zustand keine Optionen mehr. „Gut, Gott“, betete ich, „wenn du es verlangst, lasse ich jetzt fließen.“

Und ich ließ es fließen. Und es floss, ich floss, es wollte gar kein Ende nehmen. Ich lag in einer Lache, die den Umfang eines aufblasbaren Kinderplanschbeckens hatte. Als der Bischof durch die Reihen bäuchlings liegender Priester schritt und an mir vorbeikam, wäre er fast ausgeglitten, er fand erst kurz-vor-Sturz sein Gleichgewicht wieder. Er starrte mich wütend an, was ich aufgrund meiner Bauchlage zwar nicht sehen, dank meiner besonderen Sensibilität als Brennen im Nacken aber wahrnehmen konnte.

„Gott wird schon wissen, warum“, murmelte ich und die Engel im Himmel nickten dazu.

Jetzt hat mich wieder dieses Gefühl befallen. Sie wissen schon, dieses Gefühl, das man nicht beschreiben kann.