Der Städteplaner

„Wenn Sie so freundlich wären, ein wenig zur Seite zu rücken, würde ich Ihnen gerne meine Geschichte erzählen. Aber erst geben Sie mir bitte meinen Taler zurück – der ist mir aus dem Beutel gerollt.“

Der emeritierte Professor für urbanen Städtebau und Flaschensammler Phillip ‚Thunderdome‘ Kloppenburg ist heute in Redelaune. Um konkurrenzfähig Flaschen zu sammeln fehlt ihm mittlerweile die Spritzigkeit, aber für ein Zubrot reicht es noch. ‚Das Geld liegt auf der Straße‘, pflegt er zu sagen und hat natürlich recht.

„Sie wundern sich sicherlich über mein blaues Auge – das ist ein Andenken an Frau Majakowski, diese diebische Schnapsdrossel. Zwölf Flaschen und immerhin vier Dosen hatte ich in meiner Tüte gehabt und weil ich nun einmal nicht mehr der Jüngste bin, muss ich mich öfter mal hinsetzen und ein wenig rasten. Die Majakowski hingegen nimmt leistungssteigernde Substanzen und ist quasi unermüdlich. Aber sie sammelt nicht fair, sie ist sich zu fein, um in den Abfalleimern zu suchen. Ich habe für solche Zwecke eine Greifzange und eine kleine handbetriebene Taschenlampe, Abschiedsgeschenke meines Instituts.

Das war ein schönes kleines Fest, meine Abschiedsfeier: sie hatten extra für mich diese Brötchenräder bestellt, kennen Sie die, die liebe ich, Natur, Sesam und Mohn, dann gab es noch eine Rede von meinem Nachfolger, ein ganz junger Mann ist das. Ich beneide ihn nicht. Es ist ja alles schon zugebaut und es gibt nichts mehr, was nicht irgendjemand schon mal erdacht oder erbaut hat. Ich habe damals mit Verkehrsinseln angefangen. Eigentlich waren wir Städteplaner überqualifiziert für so etwas, das im Grunde genommen eine Verwaltungsaufgabe ist, aber ich kann mit Fug & Recht sagen, dass wir die besten Verkehrsinseln im Landkreis hatten, niemand konnte sich mit uns messen. Und auch überregional brauchten wir keinen Vergleich zu scheuen.

Als ich dann an die Hochschule berufen wurde, hat mir diese Erfahrung vieles erleichtert. Das Unterrichten lag mir, nach anfänglichen Schwierigkeiten mit den Studenten, sehr. Ich hatte mein Metier schließlich von der Pike auf erlernt. Meine Studenten waren da ganz anders gestrickt, die meisten kamen aus sehr wohlhabenden und einflussreichen Verhältnissen und erkannten das Postulat nicht, für die MENSCHEN zu bauen. Immer wieder musste ich betonen, dass zu meiner Zeit nicht eine einzige Verkehrsinsel gebaut worden war, ohne dass die zwingende Notwendigkeit für sie bestanden hätte. Das hat aber kaum einer von ihnen verstanden und sie wollten es wohl auch nicht verstehen. Es herrschen andere Zeiten und auch der Ton ist heute ein ganz anderer. Alles nicht mehr so entspannt wie früher als wir noch die ganze Zukunft vor uns hatten. Sicherlich, ich habe auch Einkaufszentren geplant, ich glaube, unseres war damals das zweite im gesamten Land. Es hatte ein Dach, das jedem Bombenangriff standgehalten hätte. Nicht ohne Grund nennt man mich bis heute ‚Thunderdome‘.

Dieser Tage dürfen sie ja nicht anderes mehr planen; jenseits jeder städtischen Erfordernisse wird Einkaufszentrum neben Einkaufszentrum errichtet, egal ob jemals jemand darin einkaufen wird. Ich beneide die jungen Planer nicht. Auch wenn sie jetzt natürlich ein Vielfaches von dem, was wir in der Lohntüte hatten, verdienen. Nicht, dass sie es Dank ihrer Herkunft nötig hätten, aber das Karussell des Reichtums muss sich schließlich immer weiter drehen, muss in Gang bleiben und zwar immer schneller.

Das Matschauge? Das habe ich, wie gesagt, von Frau Majakowski, die hat einen mordsmäßigen rechten Hammer und wenn die sich deine Tüte schnappt, sagst du besser Ja & Amen, sonst kannst du dir schnell eine fangen. Das Augenlicht ist wohl nicht dauerhaft weg, sagt Tony und der muss es wissen, sein Sohn ist ja Optiker und da sind ihm Augen praktisch ans Herz gewachsen. Unter fast allen Flaschensammlern herrscht zudem so etwas wie Kameradschaftsgeist und so hat Tony sich selbstverständlich mal mein Auge angeschaut. Hilft ja nichts. Für ihn war es auch mal eine Abwechslung, normalerweise kommen immer nur die Fuselblinden zu ihm, deren Augen, wie mit Spiritus entzündet, brennen und noch in der Dunkelheit rot glühen. Nur die Majakowski spürt keine Kameradschaft; für sie sind wir nur Opfer, alle miteinander und unsere Flaschen leichte Beute.“

Phillip ‚Thunderdome‘ Kloppenburg hält den Taler in die Höhe und lächelt, als hätte er in der Lotterie gewonnen. Mit einem Schwung, dem man ihm auch auf den zweiten Blick nicht zugetraut hätte, erhebt er sich und bedankt sich für die ihm erwiesene Aufmerksamkeit.