Die reine Kunst

„Ich erinnere mich an ein Gedicht“, sagt er und schaut sich wichtig im Kreise seiner Zuhörer um, „das ich, auf den Tag genau vor 31 Jahren, für meine verflossene Liebe schrieb.“

Das Publikum reagiert aufrichtig gerührt mit ‚Ahs!‘ und ‚Ohs!‘ Die Frauen wünschen sich an die Seite dieses einzigartigen Poeten und blicken mit an Abscheu grenzendem Widerwillen auf ihre mitgebrachten Partner. Wir Männer wollen sein wie er, würden die schlechte Haltung, die trockene Glatze, die abgewetzten Kleidungsstücke und die ausgetretenen Schuhe in Kauf nehmen; für die Liebe im Blick der Frau an unserer Seite wäre dieser Preis wahrlich nicht zu hoch angesetzt.

„Wo liegt der Traum für dich, mein süßes Kind, dort im Dann, hier im Jetzt, sage mir, wo auf der Erde, wo im Wasser, wo ist Leben?“ Der Dichter lässt die Stimme tanzen, umkreist die Worte, greift nach Lauten, schmeckt Satzzeichen auf der Zunge nach wie der Weinkenner einen guten Roten.

Ist das Katzenblut auf seiner weißen Weste, das Blut einer unschuldigen Kreatur? Die Zuhörer und Zuhörerinnen reiben sich verwundert die Augen und stören tuschelnd den Vortrag hinter vorgehaltener Hand. Der Dichter starrt die Störer strafend an. Schnell einigt man sich in weiten Teilen des Publikums darauf, dass es sicherlich süße Reste Saft seien, die auf des Poeten Weste wie Warnschilder strahlen.

Das wird es sein, süße Reste Saft. Man kennt doch die Vorliebe des Meisters für Saft, für süßen Saft, hat er ihn doch häufig schon in seinem Werk zum Leitmotiv gemacht. Man denke nur an seine Elegie ‚Nur Saft gab mir nach deiner Hochzeit Kraft‘ oder die beiden Erzählungen ‚Saft schafft, was nur Saft schafft‘ und ‚Deine Liebe ist der Sirup unserer Schorle‘ in denen er es jeweils bis zum letzten Saft, … äh … Satz meisterhaft verstand, den Begriff in jeder zweiten Zeile zu verwenden.

Verschwenden wir also keinen weiteren Gedanken an die roten Flecken, die ja alles Mögliche, praktisch irgendwas sein könnten: süßer Saft, Aquarellfarbe, Katzenblut oder Saft.

Wahrscheinlich aber Saft und das ist im Publikum mittlerweile Konsens. Wir lehnen uns beruhigt zurück und lassen uns vom Herrn der Worte in das Zauberreich der Sprache entführen. Auch als die nächste vorgetragene Geschichte einen brutalen Haustiermord zum Thema hat, sind wir uns einig: Man darf den Verfasser nicht mit der Person des Ich-Erzählers verwechseln.

PS: Dann war da noch der Mann, der Dinge vorhersehen konnte, die bereits geschehen waren. Eine Fähigkeit, wenig geeignet, ihm zu Ruhm zu verhelfen.