Kein Attentat

Mir gegenüber sitzt ein nervöser junger Mann. Ein dauerndes Wippen mit dem Fuß lässt den Pelz seiner Kapuze erzittern. So wirkt er wie ein Wildtier, das im Wald Witterung aufnimmt. Hätte er bewegliche Ohren, wären sie auf eine Gefahr in der Ferne gerichtet. Ich würde es auch riechen können, käme nicht von etwas weiter hinten eine Wolke Rasierwasserduft geflogen, die einen undurchdringlichen Belag in meiner Nase bildet.

Hinter seiner Anspannung und den wie Billardkugeln umherschießenden Augen schläft eine Müdigkeit, wie sie sich nur entwickeln kann, wenn einer jahrelang zu wenig schläft.

„Leg dich hin! Ruh‘ dich ein wenig aus!“, möchte ich ihm zurufen. Aber das Hin und Her seiner Augäpfel wirkt, wie Schüsse aus einem automatischen Gewehr und schüchtert mich ein. Also schweige ich und versuche seinen Blick mit meinem festzuhalten, ihn zur Ruhe zu zwingen. Als es gelingt, finde ich nichts als Traurigkeit, Enttäuschung und Hass in seinem Gesicht. Seine Finger halten eine Filztasche der letzten Mode umklammert. So fest hält er sie, dass seine Knöchel wirken, als sei er ein Skelett. Bestimmt hat er einen Sprengsatz in der Tasche verstaut. Unterwegs zu einem stark frequentierten Ort, wo ein schmerzvoller Tod möglichst viele Unschuldige ereilen soll.

Ich kann unbesorgt sein, denn mit meiner Unschuld ist es nicht weit her. Schon als Kind habe ich gelogen und plagte meine Eltern mit Bockigkeit und mangelndem Einsehen. Auch an Dankbarkeit, Anstand und Ehrgeiz fehlte es mir und das ist bis heute so geblieben. Freilich könnte ich mich herausreden, denn es gibt immer einen Grund; nur bin ich obendrein zu faul, um Wert darauf zu legen, gut dazustehen. Doch gerade heute sticht mich der Hafer. Ich möchte eine Heldentat vollbringen, also folge ich ihm. Solange ich – beladen mit Schuld – in der Nähe bin, wird er den Auslöser nicht betätigen.

Stundenlang schleiche ich ihm nach. Wieder und wieder bleibt er stehen, sieht sich um nach einer Ansammlung Untadeliger. Doch wann immer unsere Blicke sich kreuzen, nimmt er die Hand wieder aus der Tasche. Lange nach Einbruch der Dunkelheit gibt er auf und verschwindet mit hängenden Schultern in einem unscheinbaren Mietshaus. Schnee ist gefallen und die Bürgersteige sind vereist. Ich wärme mich an den milden Taten, die ich an der Menschheit getan habe.