„Unbehagen in Bad Sodom“ – ein Blick ins Buch

Samuel Duda seufzte innerlich. Nach außen drang kein Laut. Er ließ von der Kiste ab und setzte sich. Traurig blickte er aus dem Fenster. Zäh quoll der Verkehr durch die Hauptstraße von Bad Sodom. Er schaute auf die andere Seite der Straße, wo auf den Dachterrassen die Nachmittagssonne alles in warmes Licht tauchte. Da drüben, dachte er, müsse die Welt in Ordnung sein. Die Straßenseite, auf der er lebte, lag wie immer im Schatten. Er hatte den ganzen Vormittag versucht, die vermaledeite Kiste zur Wohnungstür zu schaffen, aber sie war zu schwer. Und selbst wenn er die Wohnungstür erreichen würde, blieben noch vier Stockwerke, die er überwinden müsste.

Kurz nach dem Erwachen schon hatte Samuel Duda das Gefühl gehabt, dass heute etwas Dringliches anstand – ein Imperativ, der ihn erschauern ließ. Das Ticken des aufklappbaren Reiseweckers auf dem Nachttisch brachte das Wasser in seinem Glas in Schwingung. Beim Frühstück hatte er versucht, nicht an die Kiste zu denken, er hatte versucht, nicht zu der Kiste hinüber zu schauen, die dort am Fußende seines Bettes stand und wie das Herz eines frisch sezierten Frosches pulsierte. Samuel Duda mochte die Ordnung in Körpern, das Arrangement der Organe, den Platz, den jedes Ding zu haben schien.

Er betrachtete seine Hände, die leicht zitterten. Tief in seinem Bauch grollte es. Er stand auf und lief den Flur der Wohnung entlang. Immer wieder und wieder. Schließlich lief er ins Badezimmer und sah in den Spiegel. Auf seiner Oberlippe standen Schweißperlen und die Augen waren gerötet. Mit linkischen Bewegungen zog er seine blutige Trainingsjacke aus, knüllte sie zusammen, ging zurück in die Küche und warf sie in den Mülleimer. Ein schauderhaft hoher Ton erklang in seinem linken Ohr, es knackte in seinem Kopf.

Einen Augenblick später stand er mit blankem Oberkörper auf dem Balkon und brüllte gegen den Verkehrslärm an. Wütende Tränen strömten über sein Gesicht. Die Welt nahm keinerlei Notiz von ihm. Die Passanten eilten ihren Zielen entgegen, der Verkehr floss unbarmherzig voran. Einzig Doktor Kolbe, der ein feines Gehör hatte, schaute zu dem Balkon hoch, auf dem der halbnackte Samuel Duda stand, der in animalischer Wut schrie: „Welt, du Sau, du ekelhafter Schleimwurm! Warum ich, warum immer ich? Mach, dass es aufhört! Hört mich denn niemand?“

Doktor Kolbe schmunzelte, er kannte diesen Mann, wusste von seinen Sorgen, kannte den Grund seines Brüllens. Er hatte den ganzen Morgen unten auf dem Gehweg gewartet, hatte sich die Zeit genommen und empfand beim Anblick der Verzweiflung eine tiefe innere Befriedigung. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und machte sich auf den Heimweg

Samuel ging erschöpft zurück in seine Wohnung und schloss die Balkontür. Seine Kehle war trocken, die Zunge brannte. Er ließ sich auf das Bett fallen, atmete ein paar Mal tief und zog sich die Decke über den Kopf. Einfach einschlafen. Vielleicht würde sich alles von selbst regeln. Doch das Blut rauschte in seinen Ohren und Gedanken rasten zusammenhanglos durch sein Gehirn. Nach einigen Minuten setzte er sich wieder auf und blickte gehetzt zu der Kiste. Eine gewöhnliche Holzkiste, an den Ecken abgestoßen, mit zwei Messinggriffen und einem Klappdeckel. Er fasste den Deckel, zögerte aber, ihn zu öffnen.

In der Küche trank er mehrere Schlucke kalten Wassers direkt aus dem Hahn. Ihn fröstelte, und er klapperte mit den Zähnen. Aus der Schublade des Küchentisches nahm er ein beinahe leeres Päckchen Tabak. Samuel war sicher, dass auch irgendwo Zigarettenpapier sein musste. Ungeduldig durchwühlte er die Schublade. Als er sich die Spitze einer Nagelschere unter den Zeigefingernagel rammte, schrie er vor Schmerz auf. Schließlich fand er die Blättchen. Sie waren wohl nass geworden und klebten aneinander. Es dauerte eine Weile, bis er mit zitternden Fingern eines abgelöst hatte. Der Tabak war trocken und bröselig. Mit Missfallen betrachtete er sein krummes Werk. Das Drehen der Zigarette hatte ihn nicht beruhigt, im Gegenteil. Sein Nacken war verspannt, der Finger pochte und er fühlte sich mitgenommener als zuvor. Den ersten Zug inhalierte er tief. Ein paar Krümel gerieten ihm in die Luftröhre und er hustete. Der Rest der Zigarette kratzte ihn im Hals, aber er rauchte sie trotzig bis zur Neige.

Auf dem Rückweg in sein Schlafzimmer blieb er beim Telefon stehen. Sein Blick fiel auf die Anzeige des Anrufbeantworters. Das Display zeigte nach wie vor die Eins an. Er hatte sich die Nachricht seit vorgestern unzählige Male angehört. Er würgte und drückte erneut auf die Wiedergabetaste.

‚Dies ist der Anschluss von Samuel Duda‘, sagte seine eigene Stimme, sie klang unbeschwert und ahnungslos. Er konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder so zu sprechen. ‚Ich bin gerade nicht zu Hause, aber ich rufe zurück, wenn Sie mir eine Nachricht hinterlassen.‘

„In der Kiste im Schlafzimmer ist alles, was übrig ist. Ich habe keine Verwendung dafür.“

Eine sonore, freundliche und ruhige Männerstimme.

„Samuel, hier spricht Kolbe. Ich verstehe Ihre Verwirrung und Aufregung. Aber machen Sie auf gar keinen Fall die Kiste auf. Ich sage Ihnen, was Sie jetzt tun: Sie nehmen die Kiste und entsorgen sie im Hausmüll! Es ist äußerst wichtig, dass Sie unter keinen Umständen in die Kiste sehen. Tun Sie, was ich Ihnen sage!“

Ein Pfeifton.

Samuel Duda nahm das Telefon und ging mit zusammengepressten Kiefern ins Schlafzimmer, setzte sich auf sein Bett und drückte die Wahlwiederholung. Am anderen Ende der Leitung sprang der Anrufbeantworter an.

„Herr Doktor Kolbe, hier spricht Samuel Duda. Bitte heben Sie ab! Ich schaffe es nicht. Ich werde jetzt die Kiste aufmachen, wenn Sie nicht abheben. Bitte! Helfen Sie mir!“

Der Doktor schien nicht da zu sein. Samuel wartete eine halbe Minute und fing wieder von vorne an. Er biss sich auf die Unterlippe und legte wieder auf.

Doktor Kolbe lag mit ausgestreckten Beinen in seinem Salon auf dem Diwan. Zu seinen Füßen saß eine dicke, blaue Perserkatze. Die Stereoanlage spielte Rockmusik. Auf einem antiken Tischchen neben dem Diwan standen ein Glas Single-Malt-Whisky und ein Aschenbecher aus Basalt. Mit einer Hand fuhr er sich durch das bereits ergraute, schulterlange Haar. In der anderen hielt er einen großen Joint, den er sich kurz zuvor mit einem Streichholz angezündet hatte. Als er Samuel Duda auf den Anrufbeantworter sprechen hörte, bekam er vor Lachen einen Hustenanfall.

Samuel seufzte und unterbrach die Verbindung. Er kniete sich vor die Kiste. Mit geschlossenen Augen legte er den Kopf in den Nacken und umfasste den Deckel mit beiden Händen. Er klappte ihn hoch und ließ den Kopf nach unten fallen, wagte jedoch nicht, die Augen zu öffnen. Zeit verging. Dann schluckte er und schaute hin.

Schrott. Die Kiste war bis zum Rand gefüllt mit Nägeln, Muttern, Maschinenschrauben, Bolzen, verbogenem Draht und verbeulten Blechstücken, in unterschiedlichen Stadien der Korrosion. Als Samuel Duda seine Hände in den Schrott grub, spürten seine Fingerspitzen organische Glitschigkeit.