Frische Suppe

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Wenn Oma Frische Suppe machte, roch schon das Treppenhaus nach Verwesung. Ich wurde bei ihr abgesetzt, und meine Eltern fuhren weiter zu ihren Unternehmungen. Mutter war seit einiger Zeit Hobby-Paläontologin und Vater fand es nicht gerecht, wenn sie alleine zu den Grabungsstätten fuhr. Er war ein Mann vieler Leidenschaften, doch ein eigenes Hobby war nicht darunter. Außerdem wurde seine Persönlichkeit von Eifersucht und Verlustängsten dominiert, Charakterzüge, die er mir, wie den Hang, nach den Mahlzeiten unangekündigt auf dem Küchenstuhl einzunicken, nach seinem frühen Ableben, selbstlos vermacht hat. Sonst erbte ich nichts; während alle Verwandten sich mit seinem Hab & Gut…

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Spiel der Ungewissheit

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„Ich mache Literatur aus jeder erdenklichen Szene“, sagte er, ziemlich prahlerisch. „Hier, schau dich um! Was siehst du? Den Steg, auf dem du und ich stehen, dort eine leere Rettungsringhalterung, das tiefgraue Meer, die Wolken, die sich türmen. Wir drehen uns um zu den Dünen, da hinten die Buchen, das Liebespaar am Strand, die lehnen sich gegen den Wind und halten sich an den Händen, als würde der andere sonst von einer Böe fortgerissen, vier, nein, fünf Möwen. Das perfekte Setting. Jetzt fehlen uns noch ein paar Zutaten für die Handlung. Ein Konflikt. Aber was guckst du mich schon wieder…

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Sugestio

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Sie sagt: „Fische schwimmen, Fische essen, schwimmen, werden gegessen.“ In einer grauen Stadt, es wird Mitte Oktober gewesen sein, wachsen in jeder Straße Aquarien auf Fensterbänken, fest verankert in den Bleibeschichtungen der Simse. Er sagt: „Seien Sie nicht schüchtern, Sie können mir ganz unbesorgt Fotos Ihrer Brüste schicken.“ Jeder, der eines dieser Aquarien bekommt, erlebt eine Verwandlung und gewinnt neuen Lebensmut. Sie sagt: „Man kann aber auch so tun, als müsste man nur so tun.“ Der Satz kommt ihm merkwürdig vertraut vor und das sagt er ihr. Sagt sie: „Haben Sie selber erst neulich gesagt. Aber ich schicke Ihnen erstmal…

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Kraft, die ihresgleichen sucht

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„Wer produziert denn hier wieder Strom?“ Vaters Stimme klang ungehalten. Wir Kinder schauten einander betreten an. „Ich seh es doch auf dem Zähler; irgendjemand hat hier wieder Strom produziert.“ Seit uns Onkel Werner letztes Jahr zu Weihnachten einen seiner handbetriebenen Dynamos mitgebracht hatte, war die Stimmung bei uns zu Hause schlecht. Vater wollte nicht im Kreise seiner Angehörigen als Energie-Bittsteller dastehen, vor allem nicht vor seinem älteren Bruder Werner, der schon immer das schlohweiße Schaf der Familie gewesen war und der, seitdem ich mich erinnern konnte, ein Auge auf meine Mutter geworfen hatte. Meine kleine Schwester fing an zu weinen….

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Der Bücherfreund

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Ich habe die Faxen dicke. Ich habe kaum noch Luft zum Atmen. Hier muss mal gründlich aufgeräumt werden. Ich schmeiße alle meine Bücher weg. Behalte nur die, die ich selber oder Leute in meinem unmittelbaren Umfeld geschrieben haben. Und die Bücher, die mir mal etwas bedeuteten, kann ich eigentlich auch schlecht aus der Wohnung werfen – die bleiben hier. Sowie die Bücher, die ich immer noch lesen wollte. Sind ja schon bezahlt. Wäre doch schade ums Geld. Aber sonst mache ich reinen Tisch. Mit allem, allen Büchern. Mit dem hier beispielsweise: ‚Geständnisse eines Top-Terroristen – Theodor Heuss Anekdoten‘, herausgegeben von…

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Das innere Schafott

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„Rache ist nicht mehr gefragt. Der Hass soll ja jetzt abgeschafft werden.“ Sven, der sich, wie es um diese Jahreszeit seine Art war, als Kaiser Marc Aurel verkleidet hatte und verdächtig lang vor dem Fenster stand, um sich von den Kindern im Hof in seiner ganzen Pracht bewundern zu lassen, sprach leise wie im Selbstgespräch. Und wie immer ein wenig überakzentuiert. Dann drehte sich zu mir um. „Ist dir das noch gar nicht aufgefallen?“, sagte er gedehnt. „Die Mächtigen wollen nicht, dass wir hassen. Und so nehmen sie uns die Begriffe für Hass.“ Ich kenne Sven nun auch schon länger…

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Nichts als die Wahrheit

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Ich werde immer stärker. Ich mache mir meine Schwächen zu eigen und lächle über sie hinweg. Es war nicht alles besser. Früher. Ich erinnere das Hündchen, das an meinem Hosenbein schnüffelt, an das Grau, das alles umgab, an die Skepsis, die jenen entgegenschlug, die anders waren, die bunt sein wollten. Das Unverständnis war groß. Es ließ sich in ihm bequem leben, ohne Zusammenhänge, fast ohne eigene Verantwortung für die Dinge. Freiheit, stimmt der Hund ein jaulendes Klagelied an, das ist die Freiheit, die ich meine. Du kannst mir doch sicherlich die Geheimnisse der Welt eröffnen, schlage ich hoffend vor. Was…

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Möglicherweise

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Ich könnte ja. Wenn ich wollte. Wenn ich wirklich wollte, würde ich. Immer wieder Gedanken daran. Gedanken, die unerwartet auftauchen, angetrieben von unbenannten Gerüchen der Vergangenheit oder einfachen Melodien; dunkle Gedanken, die sich Platz bahnen, in den Tagesablauf drängen und alles lahm legen. Zur Ablenkung denke ich Quatsch, versuche Schwerhörig- und Schwerelosigkeit in einen literarisch verwertbaren Zusammenhang zu bringen, erinnere mich an bereits geschriebene Geschichten, Charaktere und Gestalten. Da öffnet sich die Wohnungstür, ein Pudel in einer roten Pagen-Livree tritt ein, richtet sich auf und trippelt auf den Hinterbeinen in meine Richtung. „Und?“, fragt er herrisch. „Hast du dich schon…

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Unveränderte Spielregeln

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Ich stehe im Badezimmer vor dem Spiegel und gebe mit meinem Halbwissen an, dass sich die Wände biegen. „Buckminster Fuller“, knurre ich mir zu, „und Frei Otto und non-euklidische Architektur.“ Ich schnaube verächtlich, denn mir ist schmerzlich bewusst, mit wie wenig Substanz diese Begriffe in mir abgesichert sind. Und so versuche ich, das Thema zu wechseln: Was soll man von den Nachrichten halten? „Welche Nachrichten denn?“, frage ich mit geübt unschuldigem Blick, obwohl mir natürlich klar ist, wovon ich rede. Mich der Sprache des Zeitgeistes anbiedernd, erwidere ich: „Na, der Gamechanger. Stell dich doch nicht dümmer, als du sowieso schon…

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Hängt den Lurch!

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Wie oft kann man berechtigterweise „Hängt den Lurch!“ rufen, bevor man selbst zum Lurch wird? Reinhard wollte nicht immer schon Künstler sein. Lange Jahre war ihm der Gedanke, sich in einem Getränkemarkt, irgendwo in der deutschen Provinz, bis zum Abteilungsleiter hochzuarbeiten, nicht fremd und nicht unangenehm gewesen. Rechtschaffene Arbeit erschien Reinhard ein erstrebenswertes Ziel. Nicht um Reichtümer anzusammeln, aber immer so viel Geld ‚auf Tasche‘ zu haben, dass man berechtigt wäre, am Spiel der Erwachsenen teilzunehmen. Bis ihm eines Tages der Geist des Mädchens, in das er zu Grundschulzeiten verliebt gewesen war, auf dem Weg zur Restmülltonne begegnete. Das Mädchen…

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