Kurzgeschichten

Spirituelle Krämpfe

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Während andere Leute sich über jeden Moment freuen, an dem sie nicht ausgebombt werden, steht das Haus, in dem Sara Pelzfuß lebt, von internationalen Konflikten unbehelligt, im Hinterhof einer schmalen Straße. Die Nachbarschaft brummelt, wenn der Hauswart das Kleinblättrige Immergrün nicht im Zaume hält, sie grimmt, weil er nicht von Anfang an stattdessen Blaukissen gesät hat und liegt ein Damenhygieneartikel in der Einfahrt, beginnt sie zu schrillen. Sara Pelzfuß hat die leisen Töne lieber. Das ist altmodisch, denn heutzutage muss man heulend, kreischend und pfeifend seine Ansichten kundtun; wer nicht in einem Zelt abgefackelt oder mit Gewehrkolben totgeschlagen wird, muss…

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Ein Rezept für Tränen

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a) Der Kunsthandwerker In der blauen Dämmerung seiner Stadt arbeitet der literarische Kunsthandwerker an einem Traktat über die Einsamkeit. Seine Feder, getränkt in Nachtessenz, schreibt von Melancholie, während der Mond wie ein silberner Puppenspieler von jenseits des Fensters dabei zusieht. b) Die Verwandlung Die Tinte entfaltet, wie es ihre Art ist, Harmonien verborgener Träume. Der Kunsthandwerker sucht das Rezept: die Substanz, welche vermag, süße Schwaden aus geborstenen Gedanken zu formen. c) Die Stunde In die Stille durchwachter Nacht mischen die Finger des Kunsthandwerkers Relikte verblichener Zeit: flüchtige Küsse, Erinnerungen an unbeholfene Abschiede und Ungesagtgebliebenes – ein Gebräu aus Besorgnis und…

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Der Ich-Erzähler

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Als mir vergangene Woche, nach einigen Jahren flüchtiger Geburts- und Feiertagsgrußaustausche, der Ich-Erzähler begegnete, war ich verblüfft und auch ein klein wenig neidisch, wie gesund und fit er aussah. An mir sind die Jahrzehnte leider nicht so spurlos vorbeigegangen „Erinnerst du dich an das Nachbarpärchen, über das du mal eine Geschichte geschrieben hast?“ Bei der Fülle an verfassten Texten erinnerte ich mich nicht, ich vermied jedoch, es vor dem Ich-Erzähler zuzugeben, da ich von seiner überaus launischen Natur mehr als ein Liedchen singen konnte. „Ganz ruhige Leute. Nebenfiguren eigentlich. Damals in deiner Prosaminiatur ging es darum, dass du immer laut…

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Obertöne

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Ich mag keine Jahrestage. Anfangs sind die noch aufregend, wenn man keine eigenen Erinnerungen hat, aber irgendwann treffen sich dann Bombenattentat, Geburtstag vom Herzensfreund, der sich mit Absicht zu Tode gesoffen hat und das Jubiläum von Eddy Grants erster Hitsingle am selben Tag und man fragt sich, warum einen nicht längst der Teufel geholt hat, obwohl man weiß, dass der Teufel einen heutzutage holt, indem er einen da lässt, wo man ist. Dazu kommen die Jahrestage der Lebenden, an die man mit vorwurfsvollen Untertönen erinnert wird, weil man das erste gemeinsam gegessene Vanilleeis vor sechs Jahren vergessen hat. So entstehen…

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Ein Schlückchen Magie

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Die Pilger waren von der mehrtägigen Wanderung erschöpft, aber entschlossen, das Ziel noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Wilhelm und Abel, die stets zankenden Zwillinge, gesellten sich wieder zur Gruppe, nachdem sie Quartier im Pilgerort gefunden hatten. „Wisst ihr, wer der Herr der Herberge ist, die wir ausgesucht haben? Niemand anderes als der Ur-Ur-Ur-Großneffe zweiten Grades der Heiligen Cassilda selbst“ rief Wilhelm, der wie immer der Wortführer der beiden war, schon von Weitem. „Alles wird gut.“ Die Pilger staunten nicht schlecht und ein spürbarer Ruck ging durch sie. Ja, alles würde gut werden, Kraft durchfuhr sie und sogar die…

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Muscheln im Gebirge

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Leute, die, um zu illustrieren, dass die Dinge sich jederzeit in ihr Gegenteil verkehren können, darauf hinweisen, man habe im Gebirge Muscheln gefunden, sind mir suspekt. Zum einen ist der Ozean nicht das Gegenteil des Gebirges, zum anderen kommen Muscheln auch in süßen Gewässern vor, warum also nicht im Gebirge? Und überhaupt hat man keine Muscheln, sondern lediglich ihre Schalen im Gebirge gefunden. Eine Binsenweisheit bleibt eine Binsenweisheit, auch wenn man sie vor ein imposantes Panorama stellt. Durch eine Kränkung wird die vermeintliche Liebe zu Hass oder wenigstens zu Gleichgültigkeit und die Leute wollen nicht kleinlich erscheinen, deshalb vergleichen sie…

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Kein Ass im Ärmel

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Ein Uhr nachts. Die Uhr, ein steter Mechanismus, starrt mit einem einzigen, tickenden Auge von der Wand. Ich liege im Bett und zähle mehr als achtzig Risse in der Tapete. Ich träume. Erinnerungen an Erinnerungen wie vergilbte Fotos, zerfetzt und unvollständig. Ein Mann mit Hut, ein leeres Schachbrett, eine zerrissene Spielkarte mit dem Aufdruck „Kein Ass im Ärmel“. Der Mann teilt sie wieder und wieder aus. Ich hebe abwehrend die Hand. Zwei Uhr nachts. Ein schrilles Kichern dringt aus der Dunkelheit. Ich drehe den Kopf, sehe aber nichts. Ein Wassertropfen fällt von der Decke, landet auf meinem Gesicht. „Regen?“, frage…

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Kowalskis Besuch

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In der Realschule hatte ich sehr für Kowalski geschwärmt. Freilich war ich nicht die Einzige. Es gab kaum ein Mädchen, das nicht davon träumte, seine Auserwählte zu sein. Bei den Jungs verhielt es sich wahrscheinlich nicht viel anders, aber die trugen es nicht vor sich her wie eine Monstranz. Ich hatte niemals Anstalten gemacht, ihm näherzukommen. Im sozialen Gefüge der Schule hing mir – wie man hier im Süden sagt – der Arsch viel zu weit unten dafür. Da meine Jugendjahre von verschwommenem Unbehagen geprägt waren, fiel das jedoch nicht ins Gewicht. Die kindliche Begierde erschuf ein Band aus schwülstigen…

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Ein neuer Panzer

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Ich hatte mal einen Freund, genauer gesagt, einen Bekannten, noch genauer gesagt war er ein berufsmäßiger Bettler vor dem Laden, in dem ich einzukaufen pflege, jedenfalls, und darauf wollte ich eigentlich hinaus, hatte ich ihn einige Wochen nicht mehr gesehen und allmählich fing ich an, mir Sorgen zu machen. Doch gestern Morgen, ich schloss gerade mein Fahrrad an den zu meinem Supermarkt gehörigen Fahrradständer, kam mein Freund, Bekannter, also der Bettler Kalle, mit Getöse, Gerappel und Geknatter, quietschend und rasselnd, in einem offenen Schützenpanzer auf dem Gehsteig angefahren. Das Brummen und Dröhnen ließ die Passanten sich die Ohren zuhalten; ein…

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Und bist du nicht willig

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Als Kind dachte ich, mein Leben würde in nicht allzu ferner Zukunft durch einen Atompilz beendet. Eine sich mit polternden Schritten nähernde, unaufhaltsame Katastrophe, die mich und alle anderen vollkommen überraschen würde. In einem Augenblick wackle ich morgens mit dem Schulranzen auf dem Rücken die Ludwig-Braille-Straße entlang und im nächsten zerreißt ein Donnerschlag meine Ohren, der grellste Blitz der Welt blendet mich und ein heißer Wind schmort mir den Ranzen ins Fleisch und dann das Fleisch in die Knochen. Oder ich habe Pech und irre noch ein paar Tage blind durch geschmolzene Ruinen, bevor ich an der Strahlenkrankheit sterbe. Selbst…

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