An den Ohren herbeigezogen

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Manchmal dauern die Dinge. Mit den Jahren stelle ich fest, dass einem im Leben insgesamt doch wenig Spontanes und noch weniger Plötzliches widerfährt. Umso erstaunlicher die Geschichte, von der ich heute erzählen will. Ich saß eines bewölkten Tages im April an meinem Schreibtisch und betrachtete die Härchen auf meinen Handrücken. Mal atmete ich links und ließ die Haare erzittern, mal atmete ich rechts. Meine Erinnerung ist nicht mehr, was sie vor der Pest war, und so weiß ich nicht, wie es kam, dass ich die Hände an den Kopf führte und mir mit rascher Heftigkeit an beiden Ohrläppchen zog. Als…

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Der Dicke Schatten

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„Geh nicht in den Keller!“, sagte Mutter immer. „Dort lebt der Dicke Schatten.“ Und der gehorsame Junge, der ich war, ging nicht in den Keller; zu groß die Furcht vor dem Dicken Schatten. Meine Mutter, die ich als eine äußerst pragmatische Frau kannte, hatte, selbst für mich als Knirps wahrnehmbare, Panik in den Augen, wenn Sie vom Dicken Schatten sprach oder auch nur an den Keller dachte. Natürlich war ich trotz pathologischer Gehorsamkeit jugendlich neugierig und für ein Herz, das nach Abenteuern dürstet, sind Verbote nicht mehr als Wegweiser ins Unbekannte. Eines Tages stieg ich also mit dem flackernden Licht…

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Warum eigentlich kein Singspiel?

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Vorhang auf. ER und SIE sitzen sich auf dem Wohnzimmerteppich im Schneidersitz gegenüber. ER trägt ein Gewand aus feinem, leichtem, schwarzem Stoff – SIE lediglich ein etwas zu kurzes, gestreiftes Oberteil. ER erklärt ihr seine Sicht auf die Welt, SIE nickt großäugig. ER: Patriotismus gepaart mit Fremdenfeindlichkeit ist das letzte Refugium desjenigen, der in den Spiegel schaut, und hasst, was er sieht. Plötzlich klopft es an der Tür (Wahlweise ertönt ein unangenehmes Klingelgeräusch), ER steht unter Mühen auf, streicht sich das Gewand glatt und geht gemessenen Schrittes, mit wogendem Gewebe zur Tür. ER kommt zurück ins Wohnzimmer, wo SIE begonnen…

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Zobel: Mythen und Meinungen

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War da ein hämischer Glimmer in den Augen des Personalchefs gewesen, als er mir die Rechte schüttelte, um mich im Team willkommen zu heißen und eher beiläufig sagte: „Sie werden sich das Büro mit der Zobel teilen.“ Das Büro befand sich noch unter dem untersten, mit dem Fahrstuhl erreichbaren Stockwerk, ich folgte dem Chef die Treppe hinunter, er öffnete die Tür eines einem Verschlag ähnelnden Kämmerchens, in dem eine Frau an einem Schreibtisch über einer Akte brütete. „Das ist der neue Mitarbeiter, Frau Zobel. Den werden Sie unter Ihre Fittiche nehmen. Wir haben das ja besprochen.“ Und zu mir gewandt,…

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Salz oder Sieben

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Man kann sich das im Februar kaum vorstellen, aber es war warm und schön und wir saßen im Park mit Blick auf den Fluss, aßen die mitgebrachten hartgekochten Eier und kamen uns sehr klug vor. Ich sagte, während ich einen Grashalm ausriss: „Mein Dualismus ist nicht Richtig oder Falsch. Meine Dualismen sind Wahrscheinlich oder Unwahrscheinlich, Logisch und Unlogisch.“ Dann klemmte ich den Halm zwischen die Daumen und blies. Ein schrecklich zerfranstes Tröten in hoher Frequenz ertönte. Ein freilaufender Hund hielt vor uns und legte den Kopf schief. Du verscheuchtest ihn mit einem energischen Händeklatschen und er trollte sich. „Mein Dualismus“,…

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Der Salat des Heiratsschwindlers

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Tage vergehen. Ich werde mir jetzt mal einen Salat machen. Denn schließlich, und das gilt es gerade für einen Mann meines Standes zu beachten, ist unser Körper heilig und dementsprechend pfleglich zu behandeln. Wenn das Wetter mitspielt, werde ich morgen anfangen zu schwindeln. Ihr sollt dann mal sehen, was ein Kavalier alter Schule noch so drauf hat. Den Salat mache ich sicherheitshalber erst später – nichts wäre doch bedauerlicher, als wenn seine Kraft zu früh verpuffte und sie mir beim Heiratsschwindeln dann nicht mehr zur Verfügung stünde – ich esse stattdessen eine Handvoll Nüsse und rauche eine Zigarette. Tage vergehen….

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Seeanemone

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Für das neue Jahr habe ich mir vorgenommen, nicht mehr zu erschrecken, wenn ich Geister und Gestalten aus dem Augenwinkel in meiner Wohnung entdecke. Kein Zusammenzucken mehr, meinem Mund wird kein weibisches Huch! mehr entfahren, wenn ich mal wieder heimgesucht werde. Coolness und Contenance sollen meine neuen Säulenheiligen sein. Gerade gestern, ich führte ein Selbstgespräch, was ich manchmal tue, um bei einer möglichen, mir begegnenden zukünftigen Konversation nicht um Worte verlegen zu sein, überzeugte ich mich, von nun an Gelassenheit und nicht mehr Sorge, mein Leben bestimmen zu lassen. Da bemerkte ich, dass mir die ganze Zeit ein Gespenst auf…

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Abschluss

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Pletha, der Kreter sagte laut und überdeutlich: „Ich hasse Menschen, die andere beurteilen und werten.“ Er zog vor uns eine Uniform an und fühlte sich endlich wie Wurst in Pelle und nicht mehr nur wie formloses Brät. Wir anderen sammelten uns im Halbkreis – unter Wahrung eines gewissen Sicherheitabstands – um ihn; Pletha war im Ort für seine oftmals recht feuchte Aussprache bekannt, man tat gut daran, ihm nicht zu nah zu kommen. Dann fing er an zu schreien. Und zu spucken. Er schrie und er spuckte, er schaute uns Zivilisten dabei verächtlich an: „Ich muss mich nicht entscheiden. Ihr…

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Vom Finden

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Eines Tages war mein Hut weg. Einfach weg, einfach weg. Verzweiflung stieg in mir auf, denn mein Hut war weg, einfach weg. Gestern noch hatte er mich geschützt, meinen Kopf geschützt, vor Regen geschützt. Nun war er weg, einfach weg. Die Zeiten waren nicht gut, sind es noch immer nicht. Zu sagen, sie seien schlecht, war unmöglich geworden, unausgesprochen verboten. Die Zeiten waren nicht gut und sind es noch immer nicht. Ich beschloss, ihn zu suchen, im Wald zu suchen. Ich machte mich auf, unbeschützt auf, meinen Hut im Wald zu suchen, zu suchen, fest entschlossen, ihn zu finden. Ich…

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