Vom Erwachen

Vom Erwachen verstehe ich nicht viel. Fast möchte ich sagen, ich stelle mich jeden Morgen an, als hätte ich es nie zuvor getan. Ich bin das geborene Schlafschaf, wie man heutzutage sagt. Oder zumindest ein Schlummerschaf, denn im Schlummer lauern keine krausen Träume, deren Reste mir den ganzen Tag über im Gehirn kleben. Erwachen ist ja gerade modern. Nicht so wie früher, wo es ältlichen Damen in Stützstrümpfen und billigen Kostümjacken an Hausecken in der Innenstadt vorbehalten war. Die mussten sich bei Wind und Wetter die Beine in den Bauch stehen, waren Spott und Häme der Passanten ausgesetzt und warteten auf die Apokalypse und die anschließende Auferstehung des Fleisches.

Mittlerweile genügt es, einen Staatssekretär mit Segelohren irgendeiner Schweinerei zu verdächtigen oder zu argwöhnen, es stimme nicht, was in der Zeitung steht, und schon ist man erwacht. Oder man erwacht, indem man Leute mit dem Pronomen „vürb“ anspricht, die dann nicht mehr wissen, auf welches Klo sie gehen sollen. Oder man erwacht, indem man sich nur noch von herabfallenden Blütenblättern ernährt oder einen Völkermord anprangert oder etwas Offensichtliches als heimtückische Verschwörung verkleidet, sich impfen lässt oder auf keinen Fall – es gibt zahllose Möglichkeiten, beinahe unvermeidlich ist es.

Die Erwachten werden auf diese Art immer mehr und die Schlaf-, Schlummer- und Döseschafe werden immer weniger, aber gleichzeitig verhält es sich auch andersherum, je nachdem, wen man fragt. „Wie kann das sein“, frage ich meinen ehemaligen Mathmatiklehrer, „dass die zwei Teilmengen einer Menge zu gleicher Zeit größer und kleiner werden?“ Er lacht wie ein Ziegenbock und sticht mir mit dem ausgestreckten Zeigefinger in die Rippen. „Minderwertiges Charaktermaterial!“, ruft er aus.

Nicht einmal aus so einem Traum erwache ich gern.