Das tückische Es

By

„Man muss sich sputen, wenn man den Sonnenstrahl erwischen möchte. Wer trödelt, steht im Regen, ehe er es sich versieht.“ Das klingt nicht nur in meinen Ohren merkwürdig. „Was?“, brüllt der Hausmeister, als ich es ihm statt eines Grußes zurufe. Er weist mit einem fleischigen Zeigefinger auf den gelben Plastikhelm, der er neuerdings trägt. Ich wiederhole die Sätze etwas lauter und finde sie beim zweiten Mal abgedroschen und oberflächlich. Lieber würde ich über etwas anderes sprechen. Oder noch lieber über nichts. „Ich habe Sie schon beim ersten Mal gehört“, brüllt er. „Aber ich verstehe nicht. Der Helm schnürt mir das…

Read More

Staubzeug

By

Als der Reinigungsmajor vorigen Donnerstag zur jährlichen Inspektion in meine Wohnung kam, half es nichts, dass ihn die kindskopfgroßen Staubmäuse unter dem Tisch hervor böse anstarrten. Mit bis zur Stirn gerümpfter Nase tippelte er zwischen den Stapeln unerledigter Korrespondenz umher und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. „Hm“, brummte er, als ich mit dem Zeigefinger auf ein freies Plätzchen auf dem Sofa wies. Er ließ sich neben einem Haufen Schmutzwäsche nieder, betrachtete die gilben Staubfäden, die von der Decke hingen, und brummte erneut. Er machte sich Notizen auf seinem Klemmbrett. Das Kratzen des Stiftes machte mich nervös, also hielt ich…

Read More

Das Cerebrummen

By

Dass der Mensch allein durch das Verstreichen von Lebenszeit immer klüger werde, ist ein beliebtes Motiv in einer Gesellschaft, die vom Wachstum besessen ist. Oft bekommt man zu hören, mit dem Alter käme die Weisheit oder hinterher sei man schlauer. Doch wer schon einmal seinen Schädel in Verzweiflung über den schlingernden Lauf der Welt gegen die metallumantelte Kante eines Küchenschränkchens geschlagen hat, wird widersprechen, sobald die bunten Punkte einem nicht mehr vor den Augen hüpfen. Das Gehirn ist ein leicht zu beleidigendes Organ. Beansprucht man es zu wenig, legt es sich schlafen und lässt sich nur schwer wecken, doch zu…

Read More

Die Krone

By

Normalerweise ernähre ich mich ausgewogen und vermeide Völlerei oder gedankenloses Schlingen. Aber hin und wieder überkommt mich das Verlangen nach dem Fett von Tieren mit viel Salz oder Zucker in Mengen, die weit über meinen Hunger hinausgehen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die glauben, sie würden beim Essen kein Leid verursachen, wenn sie auf Mahlzeiten aus Tierkadavern verzichten. Ich höre zu oft das Gras wachsen, um mich dieser Illusion hingeben zu können. Wer sich nicht auf die hohe Kunst der Photosynthese versteht, muss töten um zu essen. Und selbst darüber ließe sich gewiss mit einem Kohlendioxidmolekül streiten, wenn man…

Read More

Gestern

By

Ritze-Ratze Pfarrersfratze. So hieß das, glaube ich, damals, als ich noch ein Kind war und im Hof auf den rötlich-braunen Pflastersteinen mit den anderen Mädchen Gummitwist spielte. Vielleicht hieß es auch anders, mein Gedächtnis ist heute nicht mehr das, was es einmal war. Die Erinnerungen dehnen sich wie ausgeleierte Hosengummis, jeden Morgen finde ich sie ein bisschen weiter entfernt vor, nichts ist mehr an seinem Platz. Vielleicht haben wir auch gar nicht Gummitwist gespielt, sondern Völkerball, obwohl ich das nicht überzeugend finde, denn ich habe Völkerball gehasst und die Erinnerung – wenn es denn eine ist – fühlt sich fröhlich…

Read More

Eine andere Geschichte

By

Hinter der Theke in der Fleischerei steht eine Dame mit prächtig geschminkten Lippen. Ihre meerblauen Augen blicken sanft über die Berge aus Rippchen und Würsten. Wenn sie das schwere Messer anhebt, um Schnitzel aufzuschneiden, spannen sich die Muskeln unter der Haut ihres Unterarms, ähnlich wie sich die Muskeln der Sau gespannt haben müssen, als der Viehtransporter die letzte Kurve vor dem Schlachthof nahm. Mit einer lässigen Handbewegung lässt sie Schinkenscheiben von der Fleischgabel auf die Waage gleiten und die dünnen goldenen Armreifen singen dazu, wie Kaffeebohnen, die man in ein großes Glas schüttet. An sich esse ich nicht gerne Fleisch….

Read More

Das Wechseltier

By

In letzter Zeit fühle ich mich seltsam. Die ersten paar Jahre dachte ich, das ginge von selbst vorüber. Es geht ja alles ständig von selbst vorüber, wie mein Vetter Sebastian nicht müde wird zu erwähnen. Da ich den Beginn des Jahres gerne nutze, um Dinge zu erledigen, die sich im Laufe des vergangenen zu einem unförmigen Haufen aufgetürmt haben, suchte ich meinen Hausarzt auf. Hin und wieder kann es nicht schaden, etwas anzupacken, dachte ich mir. Der Arzt brummte anerkennend vor sich hin, während er mich mit seinem Stethoskop abhörte und mit einem Lämpchen in meinen Hals und meine Ohren…

Read More

Höllischer Abend

By

Obwohl ich nach dem Duschen meine Füße mit glitzerndem Kunstschneepulver eingesprüht habe, bin ich nicht in festlicher Stimmung. Bräsig breiten sich die Feiertage der Christenheit über Wochen und Monate im Jahreskreis aus, so dass einem kaum Platz zum Atmen bleibt, geschweigedenn für wilden Tanz und Orgien. „Machen Sie doch! Wir leben schließlich in einer freien Gesellschaft“, ruft mir meine Nachbarin zu. Sie trägt trotz der sommerlichen Temperaturen eine Weihnachtsmütze und der Schweiß läuft über ihr Gesicht, als sie einem zu grauem Klump zusammengeschmolzenen Schneemann die Rübennase zurechtrückt. Sie beugt sich über den Topf mit kahlem Zierklee und betrachtet neugierig meine…

Read More

Das ist ja ein Delirium

By

Es gibt diese Tage, da wacht man morgens auf und kann die eigenen Hände nicht erreichen. Sie schaukeln in weiter Ferne an dünnen Armen, während man selbst zuhause sitzt und sich den Schlaf nicht aus den Augen reiben kann. „Kommt zurück!“, will man ihnen zurufen, aber durch den zugeschwollenen Hals entweicht nur eine sanfte Brise und die Hände schaukeln noch ein bisschen mehr. Kleine Stücke Erinnerung wagen sich hervor aus dem zähen Gehirn, wohlwissend, dass man sie nicht greifen kann. Eine aus Harzer Käse geschnitzte Deutschlehrerin mahnt mit erhobenem Zeigefinger, man dürfe Sätze nicht mit „Und dann …“ beginnen, wenigstens…

Read More

Fragen Sie mich bloß nichts!

By

Als moderner Mensch muss man immer und jederzeit über alles Bescheid wissen. Mir lag das Modernsein schon in der Wiege. Bereits mit wenigen Monaten vermochte ich in ganzen Sätzen zu sprechen und fragte meinen Eltern Löcher in den Bauch, aus denen lebenswichtige Organe austraten. Das brachte ihnen einen frühen Tod und ich wuchs fortan im Nasewaisenhaus auf, wo ich aus Sicherheitsgründen nur sprechen durfte, wenn mich jemand etwas fragte. Da ich selbst entsetzt über die Angelegenheit war, kam mir das Schweigen entgegen, wollte ich doch keine weiteren Todesfälle herbeiführen. Traurig war ich dennoch, denn mein Berufswunsch war Quizmistress gewesen. Das…

Read More