Obertöne

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Ich mag keine Jahrestage. Anfangs sind die noch aufregend, wenn man keine eigenen Erinnerungen hat, aber irgendwann treffen sich dann Bombenattentat, Geburtstag vom Herzensfreund, der sich mit Absicht zu Tode gesoffen hat und das Jubiläum von Eddy Grants erster Hitsingle am selben Tag und man fragt sich, warum einen nicht längst der Teufel geholt hat, obwohl man weiß, dass der Teufel einen heutzutage holt, indem er einen da lässt, wo man ist. Dazu kommen die Jahrestage der Lebenden, an die man mit vorwurfsvollen Untertönen erinnert wird, weil man das erste gemeinsam gegessene Vanilleeis vor sechs Jahren vergessen hat. So entstehen…

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Muscheln im Gebirge

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Leute, die, um zu illustrieren, dass die Dinge sich jederzeit in ihr Gegenteil verkehren können, darauf hinweisen, man habe im Gebirge Muscheln gefunden, sind mir suspekt. Zum einen ist der Ozean nicht das Gegenteil des Gebirges, zum anderen kommen Muscheln auch in süßen Gewässern vor, warum also nicht im Gebirge? Und überhaupt hat man keine Muscheln, sondern lediglich ihre Schalen im Gebirge gefunden. Eine Binsenweisheit bleibt eine Binsenweisheit, auch wenn man sie vor ein imposantes Panorama stellt. Durch eine Kränkung wird die vermeintliche Liebe zu Hass oder wenigstens zu Gleichgültigkeit und die Leute wollen nicht kleinlich erscheinen, deshalb vergleichen sie…

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Kowalskis Besuch

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In der Realschule hatte ich sehr für Kowalski geschwärmt. Freilich war ich nicht die Einzige. Es gab kaum ein Mädchen, das nicht davon träumte, seine Auserwählte zu sein. Bei den Jungs verhielt es sich wahrscheinlich nicht viel anders, aber die trugen es nicht vor sich her wie eine Monstranz. Ich hatte niemals Anstalten gemacht, ihm näherzukommen. Im sozialen Gefüge der Schule hing mir – wie man hier im Süden sagt – der Arsch viel zu weit unten dafür. Da meine Jugendjahre von verschwommenem Unbehagen geprägt waren, fiel das jedoch nicht ins Gewicht. Die kindliche Begierde erschuf ein Band aus schwülstigen…

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Und bist du nicht willig

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Als Kind dachte ich, mein Leben würde in nicht allzu ferner Zukunft durch einen Atompilz beendet. Eine sich mit polternden Schritten nähernde, unaufhaltsame Katastrophe, die mich und alle anderen vollkommen überraschen würde. In einem Augenblick wackle ich morgens mit dem Schulranzen auf dem Rücken die Ludwig-Braille-Straße entlang und im nächsten zerreißt ein Donnerschlag meine Ohren, der grellste Blitz der Welt blendet mich und ein heißer Wind schmort mir den Ranzen ins Fleisch und dann das Fleisch in die Knochen. Oder ich habe Pech und irre noch ein paar Tage blind durch geschmolzene Ruinen, bevor ich an der Strahlenkrankheit sterbe. Selbst…

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Der Chef ist da

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Fröhliches Schnattern und amüsiertes Zwitschern lässt die Wände sanft schaukeln. Mit leichter Hand werfen die Menschen einander Aufgaben und einfühlsame Klatschgeschichten zu. Ein anthroposophisches Tierasyl oder irgendwas mit Gymnastik für die Seele, vermute ich, als ich an dem langgezogenen Bau mit der schmutzrosa Fassade vorüberschlendere. Die Hitze hält die Stadt mit glühender Faust fest und atmet ihr Feuer in den Nacken, doch durch die Fenster des Gebäudes weht ein kühler Hauch von Pfefferminz. Unwillkürlich beschwingen sich meine Schritte und ich lächle sogar ein wenig, doch das vergeht mir sogleich, denn von hinten piekt mich jemand in die Hacken. Ein buckliger…

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Den Finger im Nichts

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Es gibt Verbindungen, die lassen sich einfach nicht lösen. Wenn jemand von Quitten spricht oder Quitten irgendwo zu sehen sind, höre ich sofort ein bestimmtes Geräusch. Die Hand meines Großvaters, die kräftig über den Kunstfaserstoff des Hauskittels reibt, der den Hintern meiner Großmutter bedeckt. Das kann man auch umdrehen und mit dem Kunstfaserstoff beginnen, statt mit der Hand oder man legt das Augenmerk auf die Reibung, wenn man es physikalisch genau nehmen möchte. Wobei man dann auch Ohrenmerk sagen müsste. Das sind Fipsereien, die Sie gerne selbst erledigen können, das ist Geschmackssache. Darum geht es nämlich: Geschmack. Während er den…

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Der brave Soldat Fake

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Neulich war ich zum Familienrat eingeladen. Es gab Probleme mit meinem Neffen. „Entweder ich gehe zur Polizei oder ich werde Soldat!“, schleuderte er seiner Mutter entgegen, als es einmal mehr darum ging, dass Fritz sich langsam einen Beruf aussuchen müsse. Meine Schwägerin rang die Hände und Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Mein Bruder ist ein friedfertiger und umgänglicher Zeitgenosse, doch bei der Staatsmacht sieht er rot. Sein eigen Fleisch und Blut in Uniform? Das konnte nicht gut ausgehen. Das Haus meines Bruders ist Konflikte nicht gewöhnt und so wackelten die Wände, das Wasser gefror in den Leitungen und die Rohre…

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Plädoyer für ein Beuteltier

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Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal, als der Beutelwolf in Handschellen vorgeführt wurde. Die Kappe saß schief auf seinem Kopf und pinkfarbene Beulen leuchteten in seinem Gesicht. Wahrscheinlich hatten ihm die Wachen das Fell über die Ohren gezogen, aber die meisten fanden, das geschehe ihm recht. Umständlich platzierte er seinen Hintern auf der Anklagebank, faltete die Pfötchen vor dem Bauch und begrüßte die Reporter mit einem präpotenten Grinsen. Während die Anklageschrift vorgelesen wurde, fielen dem Beutelwolf die Augen zu und er schnarchte leise. Einmal schreckte er hoch und rief „Karpatenknörze!“, was tags darauf in allen Zeitungen zu lesen war. Noch…

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Und die Taschen voller Staub

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Irmhild Pelzfuß findet schon lange keinen Gefallen mehr an der Welt, deshalb geht sie auch kaum mehr hin. Angefangen hatte das Ganze, als sie mit ihrer Familie auf die andere Seite der Berge gezogen war. Einerseits war das eine Erleichterung gewesen, weil sie dadurch ihren Patenonkel los wurde, der bei jeder Gelegenheit mit seinem Gemächt herumgewedelt hatte, aber anderseits sagten die Leute Puderzucker statt Staubzucker. Das muss man sich mal vorstellen. Puderzucker. Als wohnte man nicht in einem unbedeutenden Kaff neben einem Gefängnis, sondern in Frankreich bei Hofe. Ab da wurde es immer schlimmer: Die Hagelkörner wurden von Jahr zu…

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Der Regenbogenschöne und die Dunkelmaus

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Der Regenbogenschöne ist gewöhnt zu bekommen, wonach es ihn verlangt. Möchte er zum Beispiel ein Tröpfchen Weinbrand in seinen Morgenkaffee, so eilt gleich eine seiner klugen und schönen Frauen mit einer geschwungenen Karaffe herbei. Das kommt allerdings kaum vor, denn Weinbrand am Morgen gehört nicht zu seinen Gewohnheiten und es käme ihm auch nicht den Sinn, sich von seinen Frauen bedienen zu lassen. Der Regenbogenschöne ist vorsichtig mit seinen Wünschen und Forderungen, denn er weiß, es wird ihnen umgehend stattgegeben. Das unterscheidet ihn von einem dahergelaufenen Fatzke, der denkt, alles müsse nach seinem Schädel gehen. Die Dunkelmaus bekommt nie, was…

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