Mich interessiert der Alltag der Leute, ich will wissen, wie sie ihre Tage verbringen. Als Schriftsteller habe ich keinen Alltag, es sei denn ich stecke mitten in einem neuen Roman, aber wann ist das schon?
Mit den Jahren erfuhr ich einiges über den Jedentag anderer Menschen: ich lernte von Bettlern und Straßenzeitungsverkäufern, wo die besten Plätze sind, wann die besten Stunden. Ich lernte, wie man das Ordnungsamt umgeht, wenn es doppelköpfig, dickleibig und uniformiert durch die Straßen zieht, mit einem Maßband in der Hand, um Abstände von Bistrotischen zu Bordsteinkanten zu ermitteln.
Dann kam ich irgendwann zu Geld. Nicht viel, aber gerade genug, dass ich immer ein paar kleine Scheine in meinen Taschen finde. Einen Zwanni in der Hosentasche, einen Zehner in der Jacke, einen Fünfer in der Brusttasche des Hemdes, das ich letzte Woche schon mal kurz anhatte – man kennt das ja. So kam ich auf die Idee, den Bettlern und Zeitungsverkäufern Aufgaben zu stellen. Für einen Euro sollten sie einen Stein anlächeln, für fünf Euro eine Wolke im Straßenstaub nachzeichnen.
Die Aufgaben wurden immer absurder, die Belohnungen steigerten sich: Die letzte Aufgabe nannte ich „Der Bär hat Hunger“. Dafür gab es fünfzig Euro. Niemand wusste, was das bedeutete, aber alle versuchten es. Einer brachte mir ein leeres Honigglas, ein anderer ein Gedicht über unerfüllte Sehnsüchte. Doch der Bär hatte immer noch Hunger. Eines Tages beobachtete ich, wie ein junger Mann, der sonst Zeitungen verkaufte, versuchte, einem Touristen eine Melone als „Bärenfutter“ zu verkaufen. Da wurde mir klar: Der Bär hungerte nach Sinn, nach einer Geschichte, die diese Absurdität rechtfertigte. Eigentlich waren fünfzig Euro viel zu wenig, ein Tropfen auf heißem Stein, angesichts der allgegenwärtigen Not der Menschen eine Beleidigung. Also nahm ich das Geld und kaufte dem Zeitungsverkäufer die Melone selber ab. Wir teilten sie und lachten. Der Bär hatte vielleicht immer noch Hunger, aber für einen winzigen Moment waren wenigstens wir satt. Satt und erfrischt.