Aufgrund persönlicher Kalamitäten hatte ich mich Anfang der 90er Jahre gezwungen gesehen, eine Stellung beim lokalen Späti anzunehmen. Lange Geschichte, kurz erzählt: Dem Besitzer war zuvor der Papagei verstorben, und in meiner Branche, der höheren Literatur, fielen für mich als Bohèmien und Lebemann kaum mehr Brosamen vom damals eigentlich noch üppig gedeckten Tisch. So kam es, dass ich nun allabendlich hinter der Theke stand, wo zuvor der gefiederte Schreihals residiert hatte.
‚Kein Bier für Göring!‘ hatte er gekräht, Tag und Nacht, jahrzehntelang, eine monotone Litanei gegen das Vergessen. Niemand wusste genau, wie er darauf gekommen war; manche munkelten, ein alter Wehrmachtsoffizier habe ihm einst das Sprechen beigebracht und so einen aussprechenden Antifaschisten mit Vorliebe für Apfelkorn, den er stets in kleinen Schlucken aus einem Schälchen zu nippen pflegte, erzogen.
Eines Nachts – es muss um die dunkelste Stunde gewesen sein – betrat ein Mann den Späti, der aussah, als wäre er direkt einem Geschichtsbuch entsprungen. Oder einem Alptraum. Im vollen Ornat, einer seiner Fantasie-Uniformen, den Marschallstab in der Hand, kam er direkt auf die Theke zu. Der Besitzer starrte ihn mit offenem Mund an. ‚Ich habe es doch immer schon gewusst!‘, stieß er schließlich hervor.
Der Mann, zweifellos ein Wiedergänger Hermann Görings, räusperte sich. ‚Ein Bier, bitte.‘
Der Besitzer stieß mich in die Seite. ‚Sag schon!‘, zischte er. Ich nahm einen Schluck Apfelkorn aus dem Schälchen und krächzte: ‚Kein Bier für Göring!‘
Göring blickte mich an, die Augen verengt, dann musterte er das Schälchen. Er grinste, sein weltbekanntes diabolisch-süffisantes Grinsen. ‚Apfelkorn, was?‘, sagte er. ‚Interessante Wahl. Aber gut, wenn es schon kein Bier gibt…‘ Er schnippte mit den Fingern. ‚Dann eben Apfelkorn! Schenken Sie nach, mein Freund!‘
Der Besitzer, immer noch wie versteinert, starrte mich an. Ich zuckte die Achseln und leerte die Flasche Apfelkorn in das Schälchen. Göring prostete mir zu, kippte den Apfelkorn in einem Zug und verzog das Gesicht. ‚Teuflisches Zeug! Aber… hat schon was.‘ Dann winkte er ab. ‚Ach, was soll’s. Ich geh‘ jetzt die Welt erobern. Oder so. Aufwiedersehen!‘ Er salutierte mit seinem Marschallstab und marschierte im angedeuteten Stechschritt aus dem Laden, die Uniformhose eng am breiten Hinterteil anliegend.
Der Besitzer starrte ihm nach. ‚Was… was war das denn jetzt?‘, fragte er. Ich zuckte die Achseln. ‚Vielleicht sollten wir dem Papagei ein Denkmal setzen?‘
Haben wir dann natürlich nicht gemacht. Und sonst? Die persönlichen Kalamitäten sind zwar mittlerweile nicht überwunden, aber nebensächlich geworden, und ich war auch schon länger nicht mehr im Späti. Ich gehe jetzt immer, wenn ich was brauche, zum Lädchen in der U-Bahnstation; da ist es nämlich billiger.