Eine Postkarte ohne Unterschrift

Die Dinge sind selten so, wie man sie sich zunächst vorgestellt hat. Das meiste hat in der Wirklichkeit wenigstens einen Haken, wenn nicht sogar mehrere.

Von dem knusprigen Braten im Lokal bekommt man Sodbrennen, die neue Hose zwickt im Schritt, der kluge und schöne Mann, den man geheiratet hat, knirscht im Schlaf mit den Zähnen und auf der Frühlingswiese wird man von Ameisen gebissen.

Auch ich selbst bin nicht so prächtig, wie ich dachte. Zum Lesen benötige ich eine Brille, die Gelenke knacken beim Treppensteigen und die Welt verstehe ich überhaupt nicht mehr.

Darum vermeide ich die Realität, wann immer es möglich ist und erfreue mich stattdessen an meiner Phantasie oder bleibe im Bett. Mein Bett ist nämlich perfekt.

Nun mag mancher denken, mein Leben sei fad und ohne besondere Vorkommnisse. Ich werde nicht widersprechen, das ist mir viel zu mühsam. Ich werde auch nicht erzählen, dass ich heute eine Postkarte ohne Unterschrift erhalten habe und deshalb seit Stunden aus dem Häuschen bin. Ein lieber Freund hat sie mir geschickt, der mich nicht mit seinen Unzulänglichkeiten plagt, sondern mir eine verheißungsvolle Leerstelle schenkt, die ich mit allerlei Wunderdingen füllen kann.

Der Tag ist gerettet.