Am Puls vergangener Zeiten

Voller Sorge betrachtet Luzie Pelzfuß die Einladungskarte aus dünnem Karton. Munter geschwungene Buchstaben in grüner Tinte fordern sie auf, mit dem Absender anlässlich eines runden Geburtstags „durch die Jahrzehnte zu tanzen“. Die Adresse am anderen Ende der Stadt, das Datum viel zu nah am Augenblick und die Unterschrift unleserlich. Ganz unten steht noch: Ohne dich sind wir nicht vollständig.

Es wird sich wohl kaum jemand finden, der nach einem Jahrzehnte andauernden Leben noch vollständig ist. Ununterbrochen zieht jemand weg, kündigt einem die Freundschaft oder stirbt. Man selbst bleibt zurück mit losen Enden, die einen umhüllen wie ein zottiger Mantel. Ein wärmender und flauschig-weicher Mantel, wenn man es richtig macht.

Luzie Pelzfuß schüttelt sich und versucht so, dem Klammergriff eines wild durch die Dekaden tanzenden Organismus zu entgehen, dessen Teil sie unwissentlich ist und der ihr in den Verschnaufpausen „Weißt du noch, weißt du noch, weißt du noch?“ in die Ohren zischt. Selbstverständlich weiß sie es noch, denn Luzie Pelzfuß vergisst nie etwas. Sogar an den langweiligen jungen Mann erinnert sie sich, der so gut gerochen hatte, dass sie mit der Stadtbahn bis zur Endstation gefahren war, nur um an seinem Hals zu schnuppern, während er ihr fades Zeug erzählte.

„Aber vielleicht wird es ja ganz lustig“, flüstert ein loses Ende ihr zu. Luzie Pelzfuß seufzt. Dann schlüpft sie in ihre Tanzschuhe, zieht den flauschig-weichen Mantel an und fährt mit dem Fahrrad ans andere Ende der Stadt.