Der Bär hat Hunger

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Mich interessiert der Alltag der Leute, ich will wissen, wie sie ihre Tage verbringen. Als Schriftsteller habe ich keinen Alltag, es sei denn ich stecke mitten in einem neuen Roman, aber wann ist das schon? Mit den Jahren erfuhr ich einiges über den Jedentag anderer Menschen: ich lernte von Bettlern und Straßenzeitungsverkäufern, wo die besten Plätze sind, wann die besten Stunden. Ich lernte, wie man das Ordnungsamt umgeht, wenn es doppelköpfig, dickleibig und uniformiert durch die Straßen zieht, mit einem Maßband in der Hand, um Abstände von Bistrotischen zu Bordsteinkanten zu ermitteln. Dann kam ich irgendwann zu Geld. Nicht viel,…

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Tanz mit dem Esel

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Professor Ekelhard, seines Zeichens Koryphäe und Autorität von europäischem Ruf in allerlei Dingen und virtuoser Taschenbillardkünstler, wurde auf drei Kontinenten gleichsam für seine Eloquenz bewundert und seiner scharfzüngigen Analysen wegen gefürchtet. Weniger bekannt war seine Obsession für Esel. Nicht etwa im zoologischen oder körperlichen Sinne, oh nein! Ekelhards Esel waren metaphysisch, Allegorien auf die menschliche Dummheit, die er so innig verachtete und doch so faszinierend fand. Eines Nachts, in seinem Arbeitszimmer, umgeben von Sukkulenten, Folianten und dem süßlichen Duft von Mottenkugeln, hatte er eine Erleuchtung. Er würde mit dem Esel tanzen! Nicht wortwörtlich, versteht sich. Ekelhard imaginierte einen Esel, so…

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Beim Nazarener

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An der Ausfahrtstraße unseres Dorfes steht ein einzelnes windschiefes Fachwerkhaus. Mittlerweile leer, doch wohnte in ihm während meiner Kindheit und Jugend ein kauziger alter Mann, den alle nur den Nazarener nannten. Wem nach einem Tag harter Arbeit in den Feldern der Sinn nach lauwarmer Rotweinschorle oder krachledernen Rindswürsten stand, der ging zum Nazarener. Schon meine Eltern gingen hin und als sie durch die harte Feldarbeit allmählich verwitterten und letztlich zu verkümmert waren, um sich noch in die Öffentlichkeit zu wagen, fing ich statt ihrer an, meine Abende beim Nazarener zu verbringen. Der Nazarener war ein Mann von gedrungener Statur, mit…

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Als ich Rasputin war

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Vor meinem Fenster Kinder, die rufen: Ra-Ra-Rasputin. Kleine Münder formen Worte, die sie nicht verstehen. Fensterglas vibriert, Echo meiner selbst, meiner Vergangenheit? War ich Rasputin? Vielleicht nur Traum, Fieberwahn. Spiegelbild zeigt Mann mit Bart, aber Bart lügt. Augen verraten nichts, außer Leere. Leere, die schreit: Du bist nicht du! Aber wer dann? Frage hallt, Antwort bleibt stumm. Draußen marschieren Soldaten, Fahnen wehen, Parolen dröhnen. Neue Weltordnung, alte Phrasen. Rasputin tot, aber Geist lebt weiter. In mir? In dir? In jedem, der fragt. Kinder vor dem Fenster rufen: Ra-Ra-Rasputin.

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Kolumbianisches Finale

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Kaum-Ich: Erzähl doch mal von Kolumbien! Nicht-Ich: Das würde dann ungefähr so klingen: Willkommen in Kolumbien, dem Land der magischen Berge, aufregenden Züge und leckeren Schokolade! Stell dir vor, einsame Gipfel, die sich fast bis zum Himmel strecken, und grüne, blühende Wiesen, auf denen Kühe zufrieden grasen und leise läuten. Diese Kühe sind der Grund, warum Kolumbien so viele köstliche Käsesorten hat, die du probieren kannst! In Kolumbien kannst du mit Zügen fahren, die wie im Abenteuer durch Tunnel und über Brücken sausen. Besonders spannend ist die Fahrt hinauf zu schneebedeckten Gipfeln, wo man im Winter Ski fahren oder im…

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Memento Moritz

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Haus flüstert: „Moritz“. Nicht laut, eher ein Zischen zwischen morschen Dielen, Spalten im Mauerwerk und bröckelndem Putz. „Moritz, Moritz,“ haucht es, als Sonne durch seine fahlen Fenster fällt. Staub zeichnet Antlitze, Teilchen in Luft. Stühle stehen verlassen, warten auf einen Gast, der nie kam. Teller, halbvoll mit Brei, steht auf dem Tisch – ein Festschmaus der Fliegen, die fliegen und krabbeln. Garten verwildert, Efeu rankt sich ungestüm an der Fassade empor, birgt Geheimnisse von Spinnen. Unkraut hat Wege erobert. Vergessenheit frisst Rückblick und breitet sich aus wie dichtes Geweb. Draußen kräht Hahn, sein Ruf verzerrt, vedichtet, wie durch einen Kompressor…

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Der Geisterfahrer

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„Ich bin nicht verrückt – ihr seid alle verückt. Total verrückt. Nicht ich.“ Niemand hörte zu, als Heinz „Hank“ Sibelius nach seinem zweiten Schönheitsschlaf aus dem geöffneten Schlafzimmerfenster den Spatzen predigte, und das wusste er auch. „Irre, völlig irre, wenn ihr glaubt, was ihr vorgebt zu glauben.“ Die Spatzen taten, was sie immer taten; ob er schlief oder ob er predigte, war ihnen eins: Sie pickten und zwitscherten, sie tschilpten und schnappten auf, was ihnen vor die Schnäbel kam. Heinz „Hank“ Sibelius schienen sie dabei nicht zu beachten. „Werdet wesentlich! Werdet endlich wesentlich! Dann mache ich auch wieder mit.“ Heinz…

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Parade im Regen

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Herr Klein schlurft durch den Matsch. Noch immer kein Regen, nicht im eigentlichen Sinn, der Vorhersage zum Trotz. Eher ein träger, klebriger Nebel aus verborgen gebliebenen Träumen. Er hat sich einen neuen Hut gekauft, einen Zylinder aus angetrocknetem Kartoffelbrei. Der passt hervorragend zu den Schuhen aus gebrochenen Versprechen, die er heute aus der untersten Schublade hervorgekramt hat. Am Straßenrand spielt ein Esel Akkordeon. Die Melodie, ein verquastes Klagelied über die Unmöglichkeit, Kreise zu quadrieren, während man gleichzeitig versucht, einen unsichtbaren Elefanten zu reiten. Herr Klein zupft an seinem Zylinder. Ein Mann kommt ihm entgegen, weint still vor sich hin. Seine…

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Ein eigenes Süppchen

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Ich sitze mit mir selbst im Restaurant. Wir haben bereits bestellt. Das Gespräch kommt schwer in Gang. Ich: Und was machst du so dieser Tage? Ich: Ich bin beschäftigt. Ich: Womit? Ich: Meistens damit, der Macht des Staates durch inneren Monolog die Grundlage zu entziehen. Mein drittes Auge ist mittlerweile so angewachsen, ich kann die normalen Dinge nicht einmal mehr sehen – mein Bewusstsein derart erweitert, dass ich an den meisten Tagen kaum ein Brot beim Bäcker kaufen kann. Der Kellner kommt an den Tisch. Er trägt eine dampfende Terrine. Kellner: Wer hat die Nummer 6, die Chakra-Suppe, bestellt? Ich:…

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Der Eber und der Papst

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Es ist nun schon so lange her, aber ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre, dass wir Jungs im Kreis um ein selbstgemachtes Lagerfeuer saßen und Zigaretten aus Zeitungspapier und zerbröseltem, trockenem Laub rauchten. In unserer Bande herrschten der Eber und der Papst. Das Wort des Papstes war Gesetz, und wenn er sagte, wir rauchen, dann rauchten wir. Der Eber hieß eigentlich Volker Ebert, aber das habe ich erst Jahre später herausgefunden, als sein Bild von der einzigen Litfaßsäule im Ort herabblickte und für seine Körperarbeitskurse warb. Dass der Papst in Wirklichkeit Stephan Winkler hieß, erfuhr ich auf…

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