Mortui Non Mordent

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Und frage nie nach den Hinrichtungen! Die fallen beinahe täglich an und niemand nimmt mehr Anstoß. So wird es gewünscht und alle halten sich daran. Neuankömmlinge kämpfen oft mit aufsteigender Magensäure, wenn sie den zart süßen Geruch, der die Straßen beherrscht, zum ersten Mal mit seinem Ursprung in Verbindung bringen. Unterdrücke das Würgen! Verdränge den Ekel! Nur so wirst du es hier zu etwas bringen. Oft sieht man Kinder, die mit Leichenteilen spielen. Das ist zwar verboten, aber den Kindern verzeiht man, wie in anderen Kulturen auch, einiges. Ein komischer Anblick, wenn sich zwei Kurze um ein Bein streiten, das…

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Habakuk

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„Wie lange soll ich schreien, und niemand will mich hören? Entschuldige, Herr, ich frage ja nur und wollte nicht stören.“ Habakuk, Einmaliger und Prophet aus Leidenschaft, hatte sich, als er einst den Organspendeausweis ausfüllte, sicherlich nicht vorstellen können, dass ich einmal Besitzer seiner Seele, seiner einzigartigen Seele sein würde. Es geht Gewalt über Recht und falsche Urteile ergehen täglich. Diesen Frevel vor Augen, die ab einem gewissen Punkt Spiegel seiner Seele wurden, betrachte ich das Weltgeschehen. Die Transplantation war notwendig geworden, da ich durch gewisse Umstände in meinem Leben, die ich nicht näher beleuchtet wissen will, meine schon löchrige und…

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Die Zeit ist trügerisch, hält nie, was sie verspricht

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In der Prinzessinnenvariante des Schneidersitzes, die Knöchel gekreuzt, werden Stoffe geschnitten, bestickt, beklebt, in neue Form gebracht, vernäht. Manchmal etwas Warmes für die kalten Stunden, meist kleine Kleider für Bären oder Puppen. Eine Fliege landet auf der arbeitenden Hand, mit hellem Stimmchen spricht sie furchtlos: „Das Leben geht weiter. Die Zeit heilt alle Wunden.“ Und Ähnliches und immer mehr. Man kennt so Tierchen ja – die Verlegertochter Dora Duncker hatte auch nie Zeit, hetzte von Termin zu Termin und murmelte Sätze wie: „Ich fühle mich am Anfang eines Verbrechens“ und „Ich sollte zu denen gehören, denen Aufschub gewährt wird bis…

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Die Fahrt

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Ich durchschreite ein Meer aus Licht, ein Mehr an Wissen, durchwate Untiefen und warte auf Erleuchtung. Ich erwarte, dass ein Stern mir scheint, sich über mich ergießt. Dass alles, was stockt, fließt, dass jeder Nerv getroffen wird: Im Abteil fläzt sich ein Soldat, seine langen Schaftstiefelbeine auf den Sitzen links und rechts von mir. Bevor ich ihn daran hindern kann, holt er seine Pfeife hervor – ölig schimmernde Schwaden. Er erzählt: „In einer Nacht, kaum heller als die heutige, kam ein Küster an seiner Kirche vorbei. Er hörte Stimmen, sah stimmungsvolles Kerzenlicht aus dem Inneren nach außen drängen. Er öffnete…

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Kein Übermensch in bergigem Terrain

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Letztlich ist es doch einfacher, einer Begierde ganz zu entsagen, als in ihr Maß zu halten. Schritt für Schritt fällt niemandem leicht, ein Schnitt muss getan werden, ein Bruch mit dem, was einst Begierde war. Nur so versteht man sich als Sieger der eigenen Moral. Ein Hahn auf einem Haufen Mist erzählt dem Morgen, jedem Morgen, was er weiß, damit er nicht vergisst, was wirklich wichtig für ihn war und ist. Zum Beispiel Sinnenfreuden nachzugehen, zum Beispiel Bündnisreue. Ehe man es sich versieht, ist wieder ein Jahr vergangen. Ehe man sich umschaut, in die Morgensonne blickt, tut man einen Atemzug…

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Familie 2

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Doch nicht einmal die Heilige Kassilda in all ihrer wunderbaren Demut und endlosen Geduld vermag mehr meine Großmutter von ihren Sünden zu befreien. Der Platz an der Kirchenwand, wo ihr Bild gehangen hatte, war eines Morgens leer. Mit viel Phantasie konnte man sich die Darstellung der großen Mildtäterin noch vorstellen, doch obwohl meine Großmutter viele Stunden ihres Lebens betend in der heiligen Halle verbracht hatte, verblasste ihre Erinnerung schnell. Klagend und zeternd betrat Großmutter die Küche, in der ich und mein Großvater am Frühstückstisch saßen. Der fidele Alte hatte sich eine Flasche Bier geöffnet, und mir die Vor- und Nachteile…

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Familie

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Kinkerlitzchen, klingende Bisschen, Spitzendeckchen und ein Töpfchen Mus. Wenn ich bei meinen Großeltern im Laden aushelfen musste, sei es, dass meine Großmutter in der Kirche flach ausgestreckt vor dem Bild der Heiligen Kassilda lag und um Vergebung für ihre Sünden bat, sei es, dass mein Großvater in der Dorfschenke mit den Lokalpolitikern um außenpolitische Positionen stritt, dann war diese Welt derart wunderbar und geheimnisvoll für mich, dass ich die Zeit um mich herum vergaß. So konnte es passieren, dass ich als Achtjähriger morgens meinen Dienst begann und nachmittags um halb fünf im Alter von 20 Jahren die Tür hinter mir…

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Der ist kein Schriftsteller, dessen Gedichte niemand liest

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Ein Fleck auf einem Hemd, auf meinem Hemd, das starrt vor Tiefenschmutz. Eine Reise über Täler, Hügel, Wiesen, Steppen auf meinem silbern im Halbmondlicht schimmernden Schimmel. Seit Tagen im Sattel, seit Stunden im Galopp. Die Abduktoren ziehen, unter meinem Sattel gart immer das nächste Abendessen. Endlich eine Ortschaft. Ich nehme das Pferd auf meine Schultern und frage, ohne eine Antwort zu erwarten: “Kannst du Menschen sehen?” Es fühlt sich unwohl auf meinen Schultern, ich kann es an seiner Körperspannung erkennen. Ich lasse es herunter und gehe die letzten Meter zu Fuß. Ein Mädchen kommt mir entgegen und hält ein Kästchen in…

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Rückstau

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Frau Doris Wagginer denkt, wie schön es wohl wäre, wenn sie die Welt aus dem Blickwinkel der Weberknechte in ihrem Badezimmer betrachten könnte. Eines dieser possierlichen Tiere trägt ein abgerissenes Beinchen und hält es unter seine Nase, um sich selbst mit der Vorstellung eines Schnurrbarts zu unterhalten. Der Weberknecht räuspert sich. Frau Doris Wagginer hört, wie das Spinnentier mit verstellter Stimme spricht: „Denjenigen, die statt Gott sich Freunde nehmen, frevelhaft in ihrem Auftreten, unsittlich in ihrem Gebaren, werden wir unsere Wege zeigen – denn streben sie nicht nach dem, der Gunst bereitet, in ihrem Tun?“ Frau Doris Wagginer kann sich…

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Die Tagung

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Es geschah am siebten Advent. Hunderte von Festnahmen, nachdem die Demonstranten Steine und verdorbene Meeresfrüchte auf die Wasserwirtschaftskapitäne und ihre flankierenden Schiffsjungen geschmissen hatten; eine Flut von Menschen füllte die Untersuchungsgefängnisse der angrenzenden Stadtviertel. Die steigende Anzahl von Selbstanzeigen gerade unter Angehörigen der sogenannten jüngeren Generation gab Anlass zur Diskussion unter uns Arrivierten. Der Vorsitzende des Kulturausschusses war von seinem Platz am Kopf der Tafel aufgestanden, hatte den Anwesenden in die Nacken geatmet und die Auswirkungen der Unruhen auf die Energieversorgung einiger wichtiger Projekte im Umfeld des alljährlichen Hafenfestes betont. „Ahoi, Freunde der Seewege!“, begrüßte er den aufrechten Rest von…

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