Randnotiz

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Die Welt birgt keine Geheimnisse. Nichts, was nicht dutzende Male von jedem Einzelnen schon gedacht worden wäre. „Oh, wie klein und unbedeutend der Mensch doch ist!“, denkt Herr Gimpel laut, als er sich in einer lauen Nacht den Sternenhimmel besieht. Frau Gimpel beeilt sich ihm beizupflichten, denn sie weiß, dass seine Geduld begrenzt ist. „Angesichts der Unendlichkeit ist der Mensch nur eine Randnotiz, eine Laune des Zufalls.“ Ihr Mann nickt grimmig und schiebt sein Kinn vor, denn er weiß von Fotografien und dem Blick in den Spiegel, dass dieser Gesichtsausdruck den energischen Anteil seiner Persönlichkeit unterstreicht und betont. „Und gerade…

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Die Grenzen der Marktwirtschaft

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„Das ist doch an gegelten Haaren herbeigezogen!“, ruft Ruth empört und verspeist einen Pfirsich, den sie unlängst gestohlen hat. „Jeder halbwegs Denkende weiß doch, dass Mundraub im Grunde gar nicht möglich ist. Besitz ist ein Unding, ein Verbrechen, der Besitz von Nahrungsmitteln aufgrund ihrer beschränkten Haltbarkeit geradezu unmöglich.“ Der Spekulant beschließt, auf steigende Lebensmittelpreise zu wetten und gewinnt jedes Mal. „Trinkwasser ist kein Menschenrecht“, sagt er. „Wie sollte es sein? Wie könnte es sein? Auf unserer schönen Erde gibt es nur zwei Arten von Menschen: die Brunnenbesitzer und die Nicht-Brunnenbesitzer. Und da ich sehr oft durstig bin, gehöre ich lieber…

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Ordnende Kraft

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Bei einer Arbeit, die sie nicht liebt, aber erledigt, weil es sonst niemand täte, trifft Bettina auf den Mann mit dem Plakat. Der Mann hält es wie eine Streitaxt; Bettina lächelt, denn sie weiß, dass einem eine unerfreuliche Tätigkeit leichter von der Hand geht, wenn man ihr gegenüber eine positive Haltung einnimmt. Zwar waren Bettinas Gedanken während der langen Stunden ihrer Ausbildung gewöhnlich geflattert wie ein verliebter Kolibri, doch soviel war hängen geblieben: Es kommt immer auf die eigene Einstellung an. Begegnet man den Menschen freundlich, wird es einem oft vergolten. Der Mann mit dem Plakat lächelt nicht zurück. Er…

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Unterschied

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Rastlos, hungrig, kein Ziel, kein Plan Auf das große Gotteshaus stürzt ein buntgeschmückter Kran Fällt ein Stein vom Herzen durch Gebet Kein Zweifel, wo der Kran heut’ steht Ein Sturm das Baugerüst gleich mit umweht. … „Ich habe das alles nicht gewollt, ich hab das alles nicht gewusst. Wer hätte auch ahnen können, dass es so zu Ende gehen würde.“ Ein Eichhorn klagt den Bäumen sein Leid. Die Bäume nehmen es gelassen hin. „Wer hätte ahnen können, dass…“ Erschrocken hält es inne, es glaubt eine silberne Löwin aus dem Winkel seines Blickfeldes wahrgenommen zu haben. Vielleicht auch nur ein Schattenspiel….

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Familie 3

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Und so krochen wir beide, mein Großvater und ich, auf Geheiß meiner Großmutter noch am gleichen Abend auf den Knien durch den Staub des Dachbodens und tasteten blind nach dem Bildnis der Heiligen Kassilda. „Ich frage mich immer wieder“, sagte ich, „was diese Heilige so besonders macht, dass wir uns zu fortgeschrittener Stunde wie die Maulwürfe durch den Dreck wühlen müssen.“ Neben mir zuckte der Großvater zusammen. „Die Heilige Kassilda war eine große Frau“, wisperte er, wie um seine Gemahlin weit unter uns in der warmen Stube nicht zu erzürnen. „Deine Großmutter und ich, wir alle eigentlich, sind ihr zu…

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Eingeschworene Gemeinschaft oder Klemmschwestern auf dem Unterdeck

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Vollkommen und benommen bekommt jeder, was sich gehört. Paul Heidewitzka, Kapitän eines blau-weißen Unterseeboots und langjähriger Befürworter der Todesstrafe schon bei kleineren Vergehen, lässt sich den Bart kraulen, bevor er fortfährt seinen Lammspieß mit Schüssen aus der Flasche Pfefferspray zu würzen, die er aus unterschiedlichen Gründen stets mit sich führt. „Weiberfrei und Spaß dabei. Das ist seit jeher mein Motto gewesen. Mit dem Tode bedrohen kann man so oder so nur die fleischliche Hülle. Wissen Sie, im Grunde genommen tue ich den Menschen einen Gefallen. Verstehen Sie, ich bin ein gläubiger Mensch. Gott wird es schon richten, sage ich immer.“ Ein…

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Struktureller Sexismus

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„Es ist doch immer wieder erstaunlich und erschreckend, mit wie wenig Wörtern die meisten meiner Mitmenschen den Tag über auskommen, mit wie wenigen wirklich eigenen Gedanken sie ihr Dasein verbringen.“ Die mittelalte Frau mit gesundem Menschenverstand ereifert sich und bemerkt dabei nicht, dass sich ihr Gegenüber, ein Mann in den besten Jahren, ohne Ankündigung aus dem Gespräch ausgeklinkt hat. „Alles, was sie von sich geben und in ihren Köpfen wiederkäuen, sind vorgedachte Halbwahrheiten, die sie nach Belieben und innerer Empfänglichkeit den Medien entnehmen, ohne sie in Frage zu stellen.“ Der Mann in den besten Jahren räuspert sich, doch bevor er…

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Nachbarschaft in Räumen & Zeiten

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In der Wohnung über meiner hustet der Nachbar fleckigen, flockigen Staub, ganze Brocken, ich höre es genau – ich stehe auf einer Klappleiter und ziehe mit einem weichen Bleistift Linien an der Zimmerdecke wo er läuft, verfolge seine Bahn. Man muss den jungen Leuten ihre Unrast nachsehen, was wissen sie schon von unserer Welt? Sie denken, die Menschheit habe gerade erst begonnen. Rückblende: Ein Ägypter poliert versonnen den goldenen Speichenschutz eines Streitwagens. „Ach! …“, seufzt er. „Unserer Welt fehlt es an Heldenmut, fehlt es an Helden, an Begebenheiten sich auszuzeichnen. Peitsche und Bier, Bier und Peitsche, das Leben ist trist…

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Am Nacktbadestrand

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Wie war das noch gestern? Wer war ich noch gestern? Die Antwort, mein Freund, kennt ganz allein der Wind. Das Haar, das mir verblieb, wird langsam weiß; der Wind bläst warm mich kahl. Ich trage einen Schutzanzug und betrachte die Nackten und die Roten. Im Klartext heißt das wohl, dass nichts und noch ein bisschen weniger meinen Blicken verborgen bleibt. „Gestatten? Platten, Vertreter von Fuß- und Hängematten.“ „Angenehm, ich bin kahl.“ „Freut mich ihre Bekanntschaft zu machen, Karl.“ Und so zieht sich auch dieses Gespräch mal wieder endlos wie Teer. Ich bedauere sehr, es überhaupt angenommen zu haben. Ich schaue…

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Das Blutgerüst

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Ein anderer Tag, eine andere Baustelle. Die Bischöfin balanciert kleinfüßig auf dem Schafott: „Ich habe keine Sinne“, sagt sie. „Körper, Formen, Gestalt und Größe, meine Bewegung im Raum nur Illusion. Ich schaffe diese Dinge aus mir selbst, jedoch nie frei vom selbstmörderischen Zweifel an den Tagesabläufen.“ Ein Esel bleibt an ihrem Gerüst stehen, blickt zu der Bischöfin auf und sie fährt fort: „Das ist die Rache. Die Rache der Profanen an den Verfeinerten. Lasst sie Türme bauen, lasst sie auf Sand bauen, lasst ihre Türme in den Himmel ragen!“ Der Esel levitiert, denn er weiß es nicht besser. Kein Tag…

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