Kulturfolger

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In der Wohnung über mir ist ein Rudel Wölfe eingezogen. Ein Elternpaar, drei Welpen und zwei halbwüchsige Geschwister. Zunächst war ich erfreut, denn die Nachbarin, die zuvor dort wohnte, war ein missgünstiges Weib, das eimerweise Wasser vom Balkon schüttete, wenn irgendwo zu laut gelacht wurde. Die Wölfe lebten ursprünglich im Wald, doch da sie dort ständiger Bedrohung durch den Ministerpräsidenten ausgesetzt waren, haben sie bei meiner Vermieterin um Asyl angesucht. Ich muss sagen, angenehmere Nachbarn hatte ich mein Lebtag nicht. Wenn sie nachts nicht ab und zu heulen würden, merkte ich gar nicht, dass sie da sind. Die Wolfsmutter grüßt…

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Caruso

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Am Wochenende kommt mein Onkel Caruso zu Besuch. Ein unangenehmer alter Herr, der häufig „Informier dich mal!“ ruft. Aber wenn ich mir weiterhin Hoffnung auf seine Erbschaft machen will, komme ich um das vierteljährliche Wochenende mit ihm nicht herum, auch wenn ich es vorzöge, mit einem Fabelwesen einen Staatsbesuch im Reich der Mitte zu machen. Mit düsterer Mine schiebe ich den Staubsauger über den Fußboden und verwünsche meine Geldgier. Ein Papagei flattert zum Fenster herein und lässt sich auf einer Sessellehne nieder. Er schüttelt sein prächtiges Gefieder. Staub und kleine Federn rieseln auf den frisch gesaugten Teppich hinab. Das Tier…

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Das tückische Es

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„Man muss sich sputen, wenn man den Sonnenstrahl erwischen möchte. Wer trödelt, steht im Regen, ehe er es sich versieht.“ Das klingt nicht nur in meinen Ohren merkwürdig. „Was?“, brüllt der Hausmeister, als ich es ihm statt eines Grußes zurufe. Er weist mit einem fleischigen Zeigefinger auf den gelben Plastikhelm, der er neuerdings trägt. Ich wiederhole die Sätze etwas lauter und finde sie beim zweiten Mal abgedroschen und oberflächlich. Lieber würde ich über etwas anderes sprechen. Oder noch lieber über nichts. „Ich habe Sie schon beim ersten Mal gehört“, brüllt er. „Aber ich verstehe nicht. Der Helm schnürt mir das…

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Staubzeug

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Als der Reinigungsmajor vorigen Donnerstag zur jährlichen Inspektion in meine Wohnung kam, half es nichts, dass ihn die kindskopfgroßen Staubmäuse unter dem Tisch hervor böse anstarrten. Mit bis zur Stirn gerümpfter Nase tippelte er zwischen den Stapeln unerledigter Korrespondenz umher und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. „Hm“, brummte er, als ich mit dem Zeigefinger auf ein freies Plätzchen auf dem Sofa wies. Er ließ sich neben einem Haufen Schmutzwäsche nieder, betrachtete die gilben Staubfäden, die von der Decke hingen, und brummte erneut. Er machte sich Notizen auf seinem Klemmbrett. Das Kratzen des Stiftes machte mich nervös, also hielt ich…

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Das Cerebrummen

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Dass der Mensch allein durch das Verstreichen von Lebenszeit immer klüger werde, ist ein beliebtes Motiv in einer Gesellschaft, die vom Wachstum besessen ist. Oft bekommt man zu hören, mit dem Alter käme die Weisheit oder hinterher sei man schlauer. Doch wer schon einmal seinen Schädel in Verzweiflung über den schlingernden Lauf der Welt gegen die metallumantelte Kante eines Küchenschränkchens geschlagen hat, wird widersprechen, sobald die bunten Punkte einem nicht mehr vor den Augen hüpfen. Das Gehirn ist ein leicht zu beleidigendes Organ. Beansprucht man es zu wenig, legt es sich schlafen und lässt sich nur schwer wecken, doch zu…

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Die Krone

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Normalerweise ernähre ich mich ausgewogen und vermeide Völlerei oder gedankenloses Schlingen. Aber hin und wieder überkommt mich das Verlangen nach dem Fett von Tieren mit viel Salz oder Zucker in Mengen, die weit über meinen Hunger hinausgehen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die glauben, sie würden beim Essen kein Leid verursachen, wenn sie auf Mahlzeiten aus Tierkadavern verzichten. Ich höre zu oft das Gras wachsen, um mich dieser Illusion hingeben zu können. Wer sich nicht auf die hohe Kunst der Photosynthese versteht, muss töten um zu essen. Und selbst darüber ließe sich gewiss mit einem Kohlendioxidmolekül streiten, wenn man…

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Gestern

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Ritze-Ratze Pfarrersfratze. So hieß das, glaube ich, damals, als ich noch ein Kind war und im Hof auf den rötlich-braunen Pflastersteinen mit den anderen Mädchen Gummitwist spielte. Vielleicht hieß es auch anders, mein Gedächtnis ist heute nicht mehr das, was es einmal war. Die Erinnerungen dehnen sich wie ausgeleierte Hosengummis, jeden Morgen finde ich sie ein bisschen weiter entfernt vor, nichts ist mehr an seinem Platz. Vielleicht haben wir auch gar nicht Gummitwist gespielt, sondern Völkerball, obwohl ich das nicht überzeugend finde, denn ich habe Völkerball gehasst und die Erinnerung – wenn es denn eine ist – fühlt sich fröhlich…

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Eine andere Geschichte

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Hinter der Theke in der Fleischerei steht eine Dame mit prächtig geschminkten Lippen. Ihre meerblauen Augen blicken sanft über die Berge aus Rippchen und Würsten. Wenn sie das schwere Messer anhebt, um Schnitzel aufzuschneiden, spannen sich die Muskeln unter der Haut ihres Unterarms, ähnlich wie sich die Muskeln der Sau gespannt haben müssen, als der Viehtransporter die letzte Kurve vor dem Schlachthof nahm. Mit einer lässigen Handbewegung lässt sie Schinkenscheiben von der Fleischgabel auf die Waage gleiten und die dünnen goldenen Armreifen singen dazu, wie Kaffeebohnen, die man in ein großes Glas schüttet. An sich esse ich nicht gerne Fleisch….

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Das Wechseltier

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In letzter Zeit fühle ich mich seltsam. Die ersten paar Jahre dachte ich, das ginge von selbst vorüber. Es geht ja alles ständig von selbst vorüber, wie mein Vetter Sebastian nicht müde wird zu erwähnen. Da ich den Beginn des Jahres gerne nutze, um Dinge zu erledigen, die sich im Laufe des vergangenen zu einem unförmigen Haufen aufgetürmt haben, suchte ich meinen Hausarzt auf. Hin und wieder kann es nicht schaden, etwas anzupacken, dachte ich mir. Der Arzt brummte anerkennend vor sich hin, während er mich mit seinem Stethoskop abhörte und mit einem Lämpchen in meinen Hals und meine Ohren…

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Höllischer Abend

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Obwohl ich nach dem Duschen meine Füße mit glitzerndem Kunstschneepulver eingesprüht habe, bin ich nicht in festlicher Stimmung. Bräsig breiten sich die Feiertage der Christenheit über Wochen und Monate im Jahreskreis aus, so dass einem kaum Platz zum Atmen bleibt, geschweigedenn für wilden Tanz und Orgien. „Machen Sie doch! Wir leben schließlich in einer freien Gesellschaft“, ruft mir meine Nachbarin zu. Sie trägt trotz der sommerlichen Temperaturen eine Weihnachtsmütze und der Schweiß läuft über ihr Gesicht, als sie einem zu grauem Klump zusammengeschmolzenen Schneemann die Rübennase zurechtrückt. Sie beugt sich über den Topf mit kahlem Zierklee und betrachtet neugierig meine…

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