Beim Nazarener

An der Ausfahrtstraße unseres Dorfes steht ein einzelnes windschiefes Fachwerkhaus. Mittlerweile leer, doch wohnte in ihm während meiner Kindheit und Jugend ein kauziger alter Mann, den alle nur den Nazarener nannten.

Wem nach einem Tag harter Arbeit in den Feldern der Sinn nach lauwarmer Rotweinschorle oder krachledernen Rindswürsten stand, der ging zum Nazarener.

Schon meine Eltern gingen hin und als sie durch die harte Feldarbeit allmählich verwitterten und letztlich zu verkümmert waren, um sich noch in die Öffentlichkeit zu wagen, fing ich statt ihrer an, meine Abende beim Nazarener zu verbringen.

Der Nazarener war ein Mann von gedrungener Statur, mit einem dichten weißen Bart, der ihm bis zur Brust reichte, und Augen, die so tief und dunkel waren wie der nächtliche Wald. Insgeheim munkelte man, er habe einst ferne Länder bereist, doch war er darüber stets schweigsam. Manchmal, wenn der Frühsommer das Dorf in goldenes Licht tauchte, setzte er sich auf die knartschende Holzbank vor seinem Haus und summte leise Melodien, während er die Zeitung verkehrt herum las.

Eines Nachts war er einfach verschwunden, hatte gesagt, er wolle in den feuchtfleckigen Schuppen, um noch etwas extra Gutes für uns zu holen und ward nie mehr gesehen. Einige glauben, er sei in seine geheimnisvollen Länder zurückgekehrt, andere meinen, er wohne noch immer in dem alten Haus, unsichtbar für diejenigen, die nicht an Magie glauben können.

Ich habe ihn jedenfalls seitdem nicht mehr gesehen und ich weiß auch von niemanden, der ihn gesehen hätte. Dennoch werde ich niemals vergessen, was er mir einmal nach einer durchzechten Nacht, mit seinem Arm auf meiner Schulter, zugeraunt hatte. „Daniel“, hatte er gelallt, „wenn man zu nichts mehr fähig ist, kann man immer noch als schlechtes Beispiel dienen.“

Und das ist rückblickend dann auch irgendwie das Motto meines Lebens gewesen. Manchmal, wenn der Wind durch die Bäume heult, höre ich ein leises Summen, als ob es das Echo lang vergangener Tage wäre.