Das Kind

Im Gegensatz zu den Frauen aus Rundfunk und Fernsehen, bekam ich das Kind nicht unter Schmerzen, wie der Herr es angeordnet hat. Es saß eines Morgens am Küchentisch, als sei es aus einem Werbefilm für arisches Dauerbrot geflohen. Einzig der bis zum zweiten Gelenk ins Nasenloch gebohrte Zeigefinger verlieh ihm etwas Menschliches. Dass ich nichts mit dem Jungen anzufangen wusste, ist meiner Egozentrik und Introvertiertheit geschuldet. Achselzuckend meldete ich ihn an einer gewöhnlichen Schule an. Er steckte voller Klugheit und Neugier, was ihm dort nicht auszutreiben war. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an ihn und er übergoss mich mit einer vertrauensvollen Liebe, die mir ganz und gar unerklärlich blieb.

Der Sommer kam. Der Junge und ich unternahmen eine Bäderreise. In einen Viehwaggon erster Klasse gepfercht ratterten wir durch die Lande. Neben uns schnarchte ein künstlicher Libanese und hielt sein elektronisches Kleingerät umklammert wie eine Geliebte. Ein Service der Bahngesellschaft, nehme ich an. Die Tage vergingen uns wie im Fluge, wir bestaunten Bauwerke am Straßenrand und alten Tand in Vitrinen. Weiters waren wir froh, das nicht geschossen wurde. Das Essen war ausgezeichnet.

Eines Tages hatte ich die Kinderpflege satt. Ich bekomme schnell Langeweile und die Routine hatte mir einen Kontinuitätsbuckel wachsen lassen. Also suchte ich den Charakterchirurgen auf. Der befühlte die spielballgroße Beule und hielt mir einen Vortrag über schlechte moralische Haltung. Den Buckel entfernte er kurzerhand und verordnete sieben Monate bittere Armut. Morgendliche Gymnastik und siebenfach gesättigte Omegafettsäuren selbstverständlich auch.

Der Junge rieb mir die Operationswunde wochenlang mit Murmeltiersalbe ein und führte allerlei Späße zu meiner Unterhaltung vor. Dass wir sieben Monate nur Zwieback und Regenwasser zum Abendbrot hatten, machte ihm nichts aus.

Später zog er seiner Wege, wie das junge Männer zu tun pflegen. Regelmäßig schickte er Postkarten. An hohen Feiertagen bekam ich Pakete, in buntes Papier gewickelt und zum Bersten gefüllt mit schlechtem Gewissen. Zum Dank sang ich ihm beruhigende Lieder, in denen pelzige Vorhaltungen schlummerten, frisch geschlüpften Waldkäuzchen gleich. So tanzten wir den Reigen aus Schuld und Vorwurf, der die Generationen verbindet, seit es Menschen gibt, ob sie nun unter Schmerzen gebären oder nicht.