Das lahme Ohr

Oberinspektor müsste man sein. Nicht bei der Polizei oder dem Finanzamt, Gott behüte! Eine obskure Behörde will ich. Irgendein Mischdings aus Schlösser und Seen, Gastgewerbe und Strafvollzug. Das Geschäft mit der Aufseherei ist mir nämlich in die Wiege gelegt.

Dumm nur, dass ich ein lahmes Ohr habe. Nie weiß ich, ob das Feldaufschwung oder Felgaufschwung heißt. Dabei ist das so wichtig: für das Bruttosozialprodukt, die Bankenkrise und das große Blablabla. Mit dem bösen Wolf. Schließlich muss man für Kuchen und Wein Platz haben. Körbchengröße. Körbchengrüße. Warum hab ich so große Brüste? Das ist unpraktisch beim Geräteturnen.

Zur Schlafenszeit ging alle paar Stunden einer meiner Eltern an meinem Bettchen vorüber und ließ den Schlagstock an den Gitterstäben entlang klappern, damit ich nicht denken sollte, ich sei allein. Dumm nur, dass ich ein lahmes Ohr habe. Trautes Heim, Glück allein. Glück Glück Glück.

Wie ein französisches Hühnchen. Slatko pile malko jebote boli ne. So spricht der böse Wolf unter dem Balkon mit kreidebleicher Stimme. Aus Neugier beuge ich mich hinab, und weil ich naseweis bin. Ha! Das ist doch nie und nimmer Französisch! Schon schnappt er mich mit zerfleischigem Zahn. Ruckedikrösken, zausig das Haar, blutig das Hösken. Und die Glucke weinet sehr, hat ja nun kein Küken mehr. In der Ferne spielt die heilige Gerechtigkeit in der Kapelle einen Tusch. Und ich? Ich trau mich nicht mehr heim.

Dumm nur, dass ich ein lahmes Ohr habe. Sonst hätte ich gleich gemerkt, dass das kein Balkon sein kann. Dann hätte ich wissen können, was das A und O ist. Warum hat er so eine kleine Brüstung? Da fällt man ja gleich drüber und runter, bloß weil man sich ein bisschen vorwitzig vorbeugt. Glück, Glück, glücklich kann sich schätzen, wer den Feld- oder Felgaufschwung beherrscht. Aber ich, oh, ich! Schlage auf stattdessen, das Pflaster bietet keinen Trost. Demütig verbeuge ich mich vor dem Herrn, der bewusst oder nicht, die Wölfe unter die Schafe sendet. Die liegen unten, da hilft kein Muhen und kein Mähen. Das X in Raserei gebrochen und zum U gebogen.

Das Gute aufgerissen, lausche ich angestrengt, ob ich zwischen Knallen und Klirren die Stiefeltritte des Vaters ausmachen kann. Oder die schleppenden Schritte der Mutter, begleitet vom Hecheln des deutschen Schäferhundes. Taktlos schlurft sie daher, wegen eines Beckenschiefstandes. Eine Folge der reichlichen Geburten, siebzehn an der Zahl. Lustig balgen sich Unvorhersehbarkeit und Routine. Vom Schwamm aufgesogen die harmonische Mischung aus Entpersonalisierung und menschlicher Kälte. Das schärft die Sinne und grämt den Grieß. Ein Chor aus sechzehn Knabenstimmen, der mit Wachstum und Brüchen immer dünner wird, singt mir feiertags Lieder. Im Sommer Dur, im Winter Moll. Dumm nur, dass ich ein lahmes Ohr habe. Ohne räumliches Hören sind die Abstände zwischen Sekunde und Terz nicht auszumachen. Nicht auszudenken, was aus mir geworden wäre, wäre mein Jahr ein Herbst gewesen.

Am Ende bin ich Hauswartin in einer Paukenhöhle geworden. Ich blicke aus dem ovalen Fenster in den Vorhof, wenn mit großem Tschingdarassa und Bumm die höheren Beamten vorüberziehen und dem Volk zuwinken. Aber ich will nicht klagen. Regelmäßig kommt einer, freut sich an meinen großen Brüsten und erregt mein Aufsehen. Mal ist er ein Mann, mal ein Enok mit prächtigen Pfoten und samtiger Stimme. Dumm nur, dass ich ein lahmes Ohr habe. Flüstert er mir Nettigkeiten, verdrehe ich sie leicht zu meinen Ungunsten.