In meiner Kindheit trugen die Frauen Kittelschürzen

A: Ich hatte wohl zu lange am offenen Fenster in die Nacht gelauscht, denn aus dem Rauschen urbaner Stille entwickelte sich allmählich eine Melodie, und als ich sie oft genug gehört hatte, begann ich mitzusummen. Mir wurde schwindelig, fast wäre ich geneigt zu sagen „ein Schwindel ergriff mich”, und ich schlug, Steißbein zuerst, auf dem Zimmerboden auf.

B: Aua, das klingt ja schrecklich! Ich bin letzte Nacht fast von den Mücken leergesaugt worden – entschuldige, das sollte jetzt kein Vergleich mit deinem Elend sein. Was war denn passiert?

A: Die Melodie war verschwunden, draußen fauchte die Autobahn. Der Nachbar aus der Wohnung über mir war gerade erwacht. Er ging in sein Badezimmer und ich hörte das Wasser und die Schwere seiner Fäkalien in den Rohren. Ich hatte das Lied doch gerade noch gesummt. Wo war es hin? Hinkend, mir das Steißbein reibend, ging ich auch ins Bad und hörte dem Nachbarn beim Duschen zu. Er sang. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und dieser Mensch hatte ein Lied. Ein eigenes. Ich hatte keines mehr; mein Lied war verschwunden.

B: Du Ärmster, wenn ich nicht so gut erzogen wäre, würde ich sagen. dass es mir verdammt leid tut, das zu hören. Wo kann so ein Lied denn hin sein?

A: Normalerweise geht ein Lied um die Welt. Meines wird jetzt wahrscheinlich auf irgendeinem Fluss irgendeinem Meer entgegen schaukeln, und …

B: Was und?

A: Ich habe es vergessen. Mist, was wollte ich denn sagen?

B: Vielleicht etwas Kluges?

A: Stimmt! Es war etwas Kluges. aber was war es noch? Wie praktisch, dass ich für solche Fälle von Vergesslichkeit immer ein paar gut abgehangene Weisheiten horte. Was hältst Du hiervon: Es kommt nicht darauf an, ob man gewinnt, sondern nur dass man gewinnt.

B: Ist schon was Wahres dran – aber ich muss jetzt mal los. Meine Oma wartet schon auf mich.

A: Meine Großmutter trug noch Kopftuch und Kittelschürze. Wie auch immer, die Zeiten ändern sich nun mal. Was hast du denn da überhaupt in deinem Korb?

B: Ganz traditionell, Kuchen und Wein. Ich muss jedoch wirklich dringend los. Mach’s mal gut!

A: Mach’s besser! Und Grüße an die Oma.