Kein guter Rat

Wer die Leute verstehen will, muss sich ihre Schuhe ansehen. Das hat mir meine Großmutter von klein auf eingebläut. Sie selbst trug stets Kellnerinnensandalen, außer bei ihrer Beerdigung. Da zwängte man ihre schon steifen Zehen in ein Paar dunkelblaue Wildlederpumps mit einer prachtvollen Silberschnalle. Ich hörte nie auf ihre Ratschläge, aber diesen beherzige ich bis heute, und dass, obwohl sich bald herausstellte, dass es sich dabei um einen Irrtum handelte. So ist der Mensch eben.

Was mein eigenes Schuhwerk angeht, bin ich nachlässig. Ob die Fußbekleidung der Jahreszeit oder dem Anlass angemessen ist, welche Farbe sie hat, oder ob sie von Kindern in indischen Fabriken genäht wurde, kümmert mich nicht. Solange ich darin mit den Zehen wackeln kann, bin ich zufrieden. Nur Pantoffeln aus Breitcord kämen mir niemals an den Fuß. Da bin ich eigen.

Jedenfalls, ich sehe mir die Schuhe an, und ich verstehe die Leute trotzdem nicht, obschon ich mir alle Mühe gebe. Ich trage einige Vokabelhefte bei mir, in die ich alles eintrage: was ängstigt den Gummistiefel, worüber lacht der Wanderschuh, was denkt die Riemchensandale über die Gesundheitspolitik, wen liebt der Barfußgänger?

Beim Abendbrot vergleiche ich die Einträge, und nachts weine ich bittere Tränen über die Abwesenheit eines Zusammenhangs.