La Montanara

Wenn man den schmalen Steig bis zum Ende geht, gelangt man an einen Felsen, der im Licht der Morgensonne die Farbe einer Aprikose hat. Wer sich die Mühe macht hinaufzuklettern – was nicht ganz ungefährlich ist – kann in ein menschenleeres Tal hinab blicken, denn das Dorf verbirgt sich hinter einer Gruppe Nadelbäume. Nicht einmal der Kirchturm ist zu sehen. Man benötigt also nur den richtigen Standpunkt, um allein auf der Welt zu sein. Aber zu zweit ist ja alles schöner, heißt es. Darum hat Marlene Pelzfuß diesmal ihre Nachbarin mitgenommen. Die Verheißung der Zweisamkeit ist nicht der einzige Grund, nicht einmal der am schwersten wiegende. Im Grunde hat sie Frau Wiltschedl aus Mitleid gefragt.

Um ihrer in die Jahre gekommenen Beziehung neue Würze zu verleihen, hatten sich die Eheleute Wiltschedl vor einigen Monaten zu einem Paarseminar angemeldet, in dessen Verlauf man sein Krafttier kennenlernte. Knut Wiltschedls innerer Berglöwe nutzte dessen biegsames Wesen und breitete sich mehr und mehr aus. Nach kurzer Zeit ging er nicht mehr zur Arbeit, nicht einmal das Wirtshaus besuchte er noch. Stattdessen lag er knurrend auf dem Wohnzimmerschrank und sprang Vera Wiltschedl ins Genick, wenn sie arglos mit dem Staubsauger hantierte.

Bereits auf halber Strecke bereut Marlene ihre freundliche Geste und wünscht Frau Wiltschedl zum Teufel. Die Nachbarin schnattert ohne Unterbrechung die belanglosesten Dinge daher; von den Vor- und Nachteilen hochfloriger Auslegeware bis zur über die Jahrzehnte schwindenden Qualität von Sportsocken. Marlene Pelzfuß beschleunigt ihre Schritte in der Hoffnung, Frau Wiltschedl möge die Puste ausgehen, doch mischt sich nur ein aggressiv-weinerliches nach Luft Schnappen in ihren Redefluss.

Als sie auf dem Felsen in der Sonne sitzen, verspeist Frau Wiltschedl fröhlich schmatzend die mitgebrachte Jause und genießt wortreich die Aussicht. Marlenes Augen schwimmen in Tränen und sie schwört, nie wieder dem Zauber der Barmherzigkeit zum Opfer zu fallen.