Spiel der Ungewissheit

„Ich mache Literatur aus jeder erdenklichen Szene“, sagte er, ziemlich prahlerisch. „Hier, schau dich um! Was siehst du? Den Steg, auf dem du und ich stehen, dort eine leere Rettungsringhalterung, das tiefgraue Meer, die Wolken, die sich türmen. Wir drehen uns um zu den Dünen, da hinten die Buchen, das Liebespaar am Strand, die lehnen sich gegen den Wind und halten sich an den Händen, als würde der andere sonst von einer Böe fortgerissen, vier, nein, fünf Möwen. Das perfekte Setting.
Jetzt fehlen uns noch ein paar Zutaten für die Handlung. Ein Konflikt. Aber was guckst du mich schon wieder so kritisch an? Denkst du immer noch an die Kellnerin von gestern Abend? Da war nichts und da ist nichts gelaufen. Nein, wir haben keine begehrlichen Blicke ausgetauscht. Auch nicht, als du auf dem Klo warst. Was hast du da überhaupt solange gemacht? Wenn du wieder den Finger in den Hals gesteckt hast, will ich’s gar nicht wissen. Ich bezahle doch nicht fast 40 Euro für deine komischen Ochsenfetzen, dass du sie wieder auskotzt. Wer bestellt denn auch Rindfleisch in einem Fischrestaurant?
Aber weiter im Text. Wenn jetzt eine der handelnden Personen der anderen irgendwie nahebringen könnte, ihr an den äußersten Rand des mittlerweile recht glitschigen Stegs zu folgen, würden wir Spannung aufbauen, eine Art Erwartung, die durch eine unsichere oder ungelöste Situation erzeugt wird.
Weißt du was? Das wäre jetzt ein perfektes Foto. Komm, wir machen ein Selfie! Ich und du vor der Ostsee. Du und ich, ich und du, das ist doch praktisch dasselbe. Wie es in der Geschichte weitergeht? Tja, das ist jetzt die Frage. Das entscheidet man am besten aus dem Bauch heraus. Ganz nach Geschmack. Romantisch oder tragisch. Tragisch oder romantisch. Oder offen.“