Die Visite

„Hier müssen Sie jetzt aufpassen – hier stößt man sich ganz leicht den Kopf.“ Veit Lochner, ein Mann aus der Abteilung Öffentlichkeitspflege und Kontaktarbeit, bückt sich und betritt das Kellergewölbe vor Rudolf-David Krenz, neugekürtem Vorstandsmitglied des Kontrollausschusses. „Hier ist noch vieles aus dem Stegreif gefertigt und noch sind nicht all unsere Pläne umgesetzt.“

Die beiden Männer steigen tiefer und tiefer die Treppe hinab; Moder lässt die Stufen schmatzen. „Hier ist es glitschig, ich bitte Sie, passen Sie auf! Sie wären nicht der Erste, der hier ausrutscht. Nicht einmal der Erste heute.“

Das Licht aus Veit Lochners fingerdicker Stablampe wird von der Dunkelheit gefressen. Rudolf-David Krenz kann kaum seine Schuhe sehen. Die zwei kommen an eine Brandschutztür. Lochner klopft an und die schwere Tür öffnet sich mit einem Seufzen.

„Hier befinden wir uns im Herzstück, der zentralen Einrichtung zur geordneten Erfassung, Erhaltung und Betreuung des weltumspannenden Netzes. Beinahe unermüdlich gestalten unsere Mitarbeiterinnen die Bewahrung des Gegenwärtigen.“ Veit Lochner nimmt mit professioneller Genugtuung die Ehrfurcht im Blick des Besuchers wahr. Der sieht staunend auf die zwölf Tischreihen, an denen je sechs junge Frauen gewandt, geschickt und gekonnt verschiedenfarbige Buchstaben auf weiße Kissen sticken.

Rudolf-David Krenz befällt leichter Zweifel. „Ist es eigentlich zweckmäßig und zielführend, das gesamte Internet auf Seidenkissen zu speichern? Es scheint mir doch sehr zeit- und auch personalaufwändig zu sein. Lohnt sich das denn überhaupt?“

Doch Veit Lochner, ein sonst wohlwollendes und leutseliges Gemüt, lässt in dieser Frage keine zweite Meinung zu. „Der kulturelle Nutzen ist schier unermesslich. Deshalb, aber naturgemäß nicht ausschließlich deshalb, beschäftigen wir vornehmlich Damen mit abgeschlossenem Kunststudium. Die murren nicht, wenn sie erst einmal erkannt haben, dass eine Tätigkeit sinnvoll ist und getan werden muss. Die Aufgabe wird von allen mit Ernst angegangen und wir haben hier in dieser Abteilung kaum unter Schwund oder Fluktuation zu leiden.“

Rudolf-David Krenz glaubt es gern. „Aber eine Frage habe ich abschließend dann doch noch: Wie weit ist die Arbeit denn schon gediehen? Ich meine, wie viele Seiten müssen die Damen denn noch sticken? Die Arbeit geht ihnen ja flottweg rasant von der Hand.“

„Wir stehen nach wie vor am Anfang des ersten Tages des der Allgemeinheit zugänglichen Internets – große Aufgaben liegen noch vor uns“, sagt Veit Lochner entschlossen.

Und Rudolf-David Krenz wiederholt nur ein kleines bisschen weniger entschlossen: „Große Aufgaben liegen noch vor uns.“