Schuld und Sühne zur besten Sendezeit

Ein beängstigendes Klacken taucht den Raum in weißes Licht. Wüsste Frau Mittwisser es nicht besser, würde sie mit der Erscheinung eines Engels rechnen. Sie hält sich das Familienalbum vors Gesicht, um die Augen vor dem Gleißen zu schützen. Neben ihr sitzt ein Herr mit pfeifendem Atem. Er reckt den fleischigen Hals, damit er einen Blick in ihr Album werfen kann. Darin sieht man den Großvater mit Strickjacke und Scheitel in der Küche auf und ab gehen. Ungehalten blinzelt er ins helle Licht, das durch die aufgeklappte Seite ins Album fällt.

„Meine Großeltern hatten sogar für einige Wochen einen Juden auf dem Dachboden versteckt“, sagt der Herr.

Seine Stimme zittert in einer Mischung aus Verschwörung und Stolz. Frau Mittwisser möchte ihm am liebsten eines der großen Sofakissen ins Gesicht schlagen. Stattdessen lächelt sie freundlich. Ein unwilliges Räuspern des Großvaters ist aus dem Album heraus zu hören.

„Damit hat man damals sein Leben aufs Spiel gesetzt“, fügt der Herr hinzu, weil ihm ein Lächeln nicht ausreichend Lohn ist für eine überlieferte Heldentat.

„Ein herzliches Willkommen an meine lieben Gäste und auch an die Zuschauerinnen und Zuschauer!“, ruft der junge Moderator und nimmt auf einem Sessel gegenüber von Frau Mittwisser Platz.

„Sein Leben konnte man damals schon durch einen Furz an der falschen Stelle aufs Spiel setzen“, wendet Frau Mittwisser ein.

Applaus vom Band übertönt die zweite Hälfte ihres Satzes. Der Herr und der Moderator applaudieren ebenfalls höflich.

„Immer diese Märchen über die Juden!“, empört sich der Großvater aus dem Album und schüttelt drohend die Faust, dass die Seiten nur so flattern. „Verbrecher waren das! Alles Verbrecher!“

Buhrufe aus der Konserve. Aus dem Publikum werden Klopapierrollen in Frau Mittwissers Richtung geworfen.

„Die Rassengesetze sind ja wohl kein Märchen“, zischt sie ihren Großvater an. Der dreht den Kopf zur Seite, als störte ihn das Summen eines kleinen Insekts.

Der Moderator überreicht dem Herrn mit dem fleischigen Hals eine Trophäe aus glitzerndem Glas. „Sieg Heil“-Rufe vom Band. Frau Mittwisser schlägt mit lautem Knall das Album zu.