Literarisches

Kein Ass im Ärmel

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Ein Uhr nachts. Die Uhr, ein steter Mechanismus, starrt mit einem einzigen, tickenden Auge von der Wand. Ich liege im Bett und zähle mehr als achtzig Risse in der Tapete. Ich träume. Erinnerungen an Erinnerungen wie vergilbte Fotos, zerfetzt und unvollständig. Ein Mann mit Hut, ein leeres Schachbrett, eine zerrissene Spielkarte mit dem Aufdruck „Kein Ass im Ärmel“. Der Mann teilt sie wieder und wieder aus. Ich hebe abwehrend die Hand. Zwei Uhr nachts. Ein schrilles Kichern dringt aus der Dunkelheit. Ich drehe den Kopf, sehe aber nichts. Ein Wassertropfen fällt von der Decke, landet auf meinem Gesicht. „Regen?“, frage…

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Kowalskis Besuch

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In der Realschule hatte ich sehr für Kowalski geschwärmt. Freilich war ich nicht die Einzige. Es gab kaum ein Mädchen, das nicht davon träumte, seine Auserwählte zu sein. Bei den Jungs verhielt es sich wahrscheinlich nicht viel anders, aber die trugen es nicht vor sich her wie eine Monstranz. Ich hatte niemals Anstalten gemacht, ihm näherzukommen. Im sozialen Gefüge der Schule hing mir – wie man hier im Süden sagt – der Arsch viel zu weit unten dafür. Da meine Jugendjahre von verschwommenem Unbehagen geprägt waren, fiel das jedoch nicht ins Gewicht. Die kindliche Begierde erschuf ein Band aus schwülstigen…

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Ein neuer Panzer

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Ich hatte mal einen Freund, genauer gesagt, einen Bekannten, noch genauer gesagt war er ein berufsmäßiger Bettler vor dem Laden, in dem ich einzukaufen pflege, jedenfalls, und darauf wollte ich eigentlich hinaus, hatte ich ihn einige Wochen nicht mehr gesehen und allmählich fing ich an, mir Sorgen zu machen. Doch gestern Morgen, ich schloss gerade mein Fahrrad an den zu meinem Supermarkt gehörigen Fahrradständer, kam mein Freund, Bekannter, also der Bettler Kalle, mit Getöse, Gerappel und Geknatter, quietschend und rasselnd, in einem offenen Schützenpanzer auf dem Gehsteig angefahren. Das Brummen und Dröhnen ließ die Passanten sich die Ohren zuhalten; ein…

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Und bist du nicht willig

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Als Kind dachte ich, mein Leben würde in nicht allzu ferner Zukunft durch einen Atompilz beendet. Eine sich mit polternden Schritten nähernde, unaufhaltsame Katastrophe, die mich und alle anderen vollkommen überraschen würde. In einem Augenblick wackle ich morgens mit dem Schulranzen auf dem Rücken die Ludwig-Braille-Straße entlang und im nächsten zerreißt ein Donnerschlag meine Ohren, der grellste Blitz der Welt blendet mich und ein heißer Wind schmort mir den Ranzen ins Fleisch und dann das Fleisch in die Knochen. Oder ich habe Pech und irre noch ein paar Tage blind durch geschmolzene Ruinen, bevor ich an der Strahlenkrankheit sterbe. Selbst…

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Der späte Hermann

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Nicht nur, dass das Ende der Welt greifbar und immanent zu sein schien, die vor vielen Jahrzehnten prophezeiten Wetterextreme waren nicht mehr seriös zu leugnen. Zwar gab es immer wieder Bequeme, die sich die Freuden und Früchte der Arbeit ihrer Vorfahren nicht nehmen lassen wollten, und es waren einige, aber auch ihnen fiel es zunehmend schwer, über die immer länger andauernden Dürreperioden, die Wirbelstürme, die Hitze oder die Schlammlawinen hinwegzulächeln und sich das sommerabendliche Grillgut unbarft schmecken lassen zu können. „Verzicht ist doch auch nur so ein neo-puritanischer Kampfbegriff. Warum wir uns die Stimmung nicht vermiesen lassen? Weil wir’s können…

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Der Chef ist da

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Fröhliches Schnattern und amüsiertes Zwitschern lässt die Wände sanft schaukeln. Mit leichter Hand werfen die Menschen einander Aufgaben und einfühlsame Klatschgeschichten zu. Ein anthroposophisches Tierasyl oder irgendwas mit Gymnastik für die Seele, vermute ich, als ich an dem langgezogenen Bau mit der schmutzrosa Fassade vorüberschlendere. Die Hitze hält die Stadt mit glühender Faust fest und atmet ihr Feuer in den Nacken, doch durch die Fenster des Gebäudes weht ein kühler Hauch von Pfefferminz. Unwillkürlich beschwingen sich meine Schritte und ich lächle sogar ein wenig, doch das vergeht mir sogleich, denn von hinten piekt mich jemand in die Hacken. Ein buckliger…

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Kein Problem

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Iris hasst den Weg zur Praxis. Treppenstufen in nahezu unendlicher Anzahl, der Geruch von ranzigem Bohnerwachs, das Knarren der Dielen im Gang stoßen sie fast magnetisch ab. „Ah, Frau Gleichen, Sie sind spät dran heute. Na, erzählen Sie mal! Was ist denn das Problem?“ In der schattenverhangenen Praxis ist es stickig vom aufwirbelnden Staub der Behandlungscouch und der Decke, die zwar frischgefaltet ist, die aber den Geruch von Katzenurin ausdünstet. Die Katze selbst wird stundenweise ins Nebenzimmer gesperrt. Iris entfernt wie immer, wenn sie hier ist, dünne Haare vom Überwurf. „Kein Problem. Ich lebe, wenn Sie das meinen. Zu meckern…

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Den Finger im Nichts

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Es gibt Verbindungen, die lassen sich einfach nicht lösen. Wenn jemand von Quitten spricht oder Quitten irgendwo zu sehen sind, höre ich sofort ein bestimmtes Geräusch. Die Hand meines Großvaters, die kräftig über den Kunstfaserstoff des Hauskittels reibt, der den Hintern meiner Großmutter bedeckt. Das kann man auch umdrehen und mit dem Kunstfaserstoff beginnen, statt mit der Hand oder man legt das Augenmerk auf die Reibung, wenn man es physikalisch genau nehmen möchte. Wobei man dann auch Ohrenmerk sagen müsste. Das sind Fipsereien, die Sie gerne selbst erledigen können, das ist Geschmackssache. Darum geht es nämlich: Geschmack. Während er den…

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Lux oder Lumen

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In einem Vorstadttheater trifft sich der harte Kern der ortsansässigen Laienspielgruppe. Die drei Gründungsmitglieder Erebos, Lykeios und Rita, sitzen nebeneinander in der zweiten Reihe im leeren Saal des Zuschauerraums, starren auf die Bühne und nippen an süßen Limonaden. Die volle Blase zwingt Lykeios, eilig seinen Platz zu verlassen. Rita rückt einen Sitz weiter zu Erebos und flüstert: „Sollen wir einen Blick in seinen Entwurf werfen? Er macht ein Riesengeheimnis um den Text. Lass uns doch mal schauen, was er schon geschrieben hat!“ Erebos ist einverstanden. Rita liest mit gesenkter Stimme: „Okay, aber ich kann seine Sauklaue nur schwer entziffern. ‚Im…

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Der brave Soldat Fake

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Neulich war ich zum Familienrat eingeladen. Es gab Probleme mit meinem Neffen. „Entweder ich gehe zur Polizei oder ich werde Soldat!“, schleuderte er seiner Mutter entgegen, als es einmal mehr darum ging, dass Fritz sich langsam einen Beruf aussuchen müsse. Meine Schwägerin rang die Hände und Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Mein Bruder ist ein friedfertiger und umgänglicher Zeitgenosse, doch bei der Staatsmacht sieht er rot. Sein eigen Fleisch und Blut in Uniform? Das konnte nicht gut ausgehen. Das Haus meines Bruders ist Konflikte nicht gewöhnt und so wackelten die Wände, das Wasser gefror in den Leitungen und die Rohre…

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