Zivilisation ist ein zerbrechliches Gut

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Wer mag der Herr wohl von diesem Bahnsteig sein? Das Militär ist da, weitgehend unbewaffnet, wie es scheint, mit dem Seesack auf der Schulter und vergangenem Tod im Blick. Die Soldaten grüßen einander zackig, weil sie es so gewohnt sind. Doch irgendwas ist heute anders als sonst. Kleinigkeiten im Verhalten deuten es an; ein kurzes schiefes Lächeln, eine Berührung an der Schulter, die länger dauert als das erwartete Boxen, als der kameradschaftliche Knuff, und eine Plastikblume am Revers, alles deutet auf Abschied. „Wenn ihr dem krummen Gefick einheizt, vergiss nicht, ihnen einen von mir mitzugeben!“ Der gerade dem Stimmbruch entwachsene…

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Das Heutzutage einmal in Willkür betrachtet

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Vor 20 Tagen ging es auf Erden noch ganz anders zu: Wollnashörner, Säbelzahnkaninchen und ein frischverliebtes Anakondapärchen überquerten den Zebrastreifen nahe der Markthalle, wo ich saß und mit den Fingern Rippchen aß. Ein Feuervogel kreiste tief am Himmel, ich schloss daraus, dass es bald Regen geben würde. Und ich täuschte mich nicht: Kurz darauf goss es wie aus löchrigen Schöpflöffeln, es goss Pech und Schwefel, es goss schillernde Batzen. Die Menschen wussten nicht aus, die Menschen wussten nicht ein – sie wussten nicht einmal, wie spät es war und jemals wieder werden würde. Ich hatte einen kleinen Topf zu meinen…

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Die Schattenseite der Gentrifizierung

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Ein anderer Tag, die selbe Baustelle: Man hat heute Nacht einen Fuchs gefangen, mit einem einzigen Hammerschlag auf den Kopf getötet und ihm die Haut abgezogen. Das nackte Fleisch hat man den Ratten zum Fraß vorgeworfen. Und überhaupt, die Bauarbeiter haben einen Narren an den Ratten gefressen; sie bringen ihnen Lieder, die fremd in meinen Ohren klingen, und Kunststücke bei. Sie schütten Bier in Helme, um den berauschten Nagern beim Streiten zuzuschauen und um auf den Ausgang der Kämpfe zu wetten. Da wechseln nicht selten größere Summen den Besitzer und mancher Arbeiter musste schon zerknirscht nach Hause schreiben, dass diesen…

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Das Wiedersehen

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In der U-Bahn mir gegenüber sitzt ein kleiner Mann – er lächelt mich erkennend an – und lässt vom Sitz die Beine baumeln. Für ihn bin ich ein Riese wohl, er sieht’s mir nach. „So trifft man sich wieder“, sagt er und nickt mit seinem großen Kopf. „Wie geht’s uns denn dieser Tage?“ Ich murmle Unverbindliches in der Art von ‚Man kommt so durch. Wenn man es tut, ist nichts leicht im Leben’; ich hoffe, dass das Gespräch damit beendet ist. Doch mitnichten, er gluckst und kichert, er hebt den stummeligen Zeigefinger und fragt: „Haben Sie schon einmal, wie ich,…

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Randnotiz

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Die Welt birgt keine Geheimnisse. Nichts, was nicht dutzende Male von jedem Einzelnen schon gedacht worden wäre. „Oh, wie klein und unbedeutend der Mensch doch ist!“, denkt Herr Gimpel laut, als er sich in einer lauen Nacht den Sternenhimmel besieht. Frau Gimpel beeilt sich ihm beizupflichten, denn sie weiß, dass seine Geduld begrenzt ist. „Angesichts der Unendlichkeit ist der Mensch nur eine Randnotiz, eine Laune des Zufalls.“ Ihr Mann nickt grimmig und schiebt sein Kinn vor, denn er weiß von Fotografien und dem Blick in den Spiegel, dass dieser Gesichtsausdruck den energischen Anteil seiner Persönlichkeit unterstreicht und betont. „Und gerade…

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Die Grenzen der Marktwirtschaft

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„Das ist doch an gegelten Haaren herbeigezogen!“, ruft Ruth empört und verspeist einen Pfirsich, den sie unlängst gestohlen hat. „Jeder halbwegs Denkende weiß doch, dass Mundraub im Grunde gar nicht möglich ist. Besitz ist ein Unding, ein Verbrechen, der Besitz von Nahrungsmitteln aufgrund ihrer beschränkten Haltbarkeit geradezu unmöglich.“ Der Spekulant beschließt, auf steigende Lebensmittelpreise zu wetten und gewinnt jedes Mal. „Trinkwasser ist kein Menschenrecht“, sagt er. „Wie sollte es sein? Wie könnte es sein? Auf unserer schönen Erde gibt es nur zwei Arten von Menschen: die Brunnenbesitzer und die Nicht-Brunnenbesitzer. Und da ich sehr oft durstig bin, gehöre ich lieber…

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Ordnende Kraft

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Bei einer Arbeit, die sie nicht liebt, aber erledigt, weil es sonst niemand täte, trifft Bettina auf den Mann mit dem Plakat. Der Mann hält es wie eine Streitaxt; Bettina lächelt, denn sie weiß, dass einem eine unerfreuliche Tätigkeit leichter von der Hand geht, wenn man ihr gegenüber eine positive Haltung einnimmt. Zwar waren Bettinas Gedanken während der langen Stunden ihrer Ausbildung gewöhnlich geflattert wie ein verliebter Kolibri, doch soviel war hängen geblieben: Es kommt immer auf die eigene Einstellung an. Begegnet man den Menschen freundlich, wird es einem oft vergolten. Der Mann mit dem Plakat lächelt nicht zurück. Er…

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Unterschied

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Rastlos, hungrig, kein Ziel, kein Plan Auf das große Gotteshaus stürzt ein buntgeschmückter Kran Fällt ein Stein vom Herzen durch Gebet Kein Zweifel, wo der Kran heut’ steht Ein Sturm das Baugerüst gleich mit umweht. … „Ich habe das alles nicht gewollt, ich hab das alles nicht gewusst. Wer hätte auch ahnen können, dass es so zu Ende gehen würde.“ Ein Eichhorn klagt den Bäumen sein Leid. Die Bäume nehmen es gelassen hin. „Wer hätte ahnen können, dass…“ Erschrocken hält es inne, es glaubt eine silberne Löwin aus dem Winkel seines Blickfeldes wahrgenommen zu haben. Vielleicht auch nur ein Schattenspiel….

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Familie 3

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Und so krochen wir beide, mein Großvater und ich, auf Geheiß meiner Großmutter noch am gleichen Abend auf den Knien durch den Staub des Dachbodens und tasteten blind nach dem Bildnis der Heiligen Kassilda. „Ich frage mich immer wieder“, sagte ich, „was diese Heilige so besonders macht, dass wir uns zu fortgeschrittener Stunde wie die Maulwürfe durch den Dreck wühlen müssen.“ Neben mir zuckte der Großvater zusammen. „Die Heilige Kassilda war eine große Frau“, wisperte er, wie um seine Gemahlin weit unter uns in der warmen Stube nicht zu erzürnen. „Deine Großmutter und ich, wir alle eigentlich, sind ihr zu…

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Eingeschworene Gemeinschaft oder Klemmschwestern auf dem Unterdeck

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Vollkommen und benommen bekommt jeder, was sich gehört. Paul Heidewitzka, Kapitän eines blau-weißen Unterseeboots und langjähriger Befürworter der Todesstrafe schon bei kleineren Vergehen, lässt sich den Bart kraulen, bevor er fortfährt seinen Lammspieß mit Schüssen aus der Flasche Pfefferspray zu würzen, die er aus unterschiedlichen Gründen stets mit sich führt. „Weiberfrei und Spaß dabei. Das ist seit jeher mein Motto gewesen. Mit dem Tode bedrohen kann man so oder so nur die fleischliche Hülle. Wissen Sie, im Grunde genommen tue ich den Menschen einen Gefallen. Verstehen Sie, ich bin ein gläubiger Mensch. Gott wird es schon richten, sage ich immer.“ Ein…

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