Udo und die narrischen Schwammerl

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Udo steht vor dem Spiegel und zieht mit den Fingern die unteren Augenlider Richtung Kinn. Dazu macht er ein Geräusch wie ein Schlossgeist. Sein Gesicht hat die Farbe eines zweihundert Jahre alten Bettlakens. Udo streckt seinem Spiegelbild eine gelblich belegte Zunge heraus und knurrt. Bei Udo klappt nie was. Egal, was er anfängt, immer hat es bereits ein anderer Udo besser, schöner, spannender oder wenigstens gleich gut gemacht. Der Schmerz darüber wird mit der Zeit weniger schneidend, doch die Wunde verheilt niemals. „Ist ja witzig, unser voriger Fußballtrainer hieß auch Udo.“ „Ts. Udo. Mit dem Vornamen müssen Sie als Schlagersänger…

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Der Fensterputzer vom Elfenbeinturm

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Als ich damals in den Elfenbeinturm gezogen bin, habe ich mir keine großen Gedanken über die Nachteile gemacht. Es ist eine extravagante Adresse, die Leute stellen sich Wunder was vor, aber fast niemand kommt, um es sich anzusehen. Die selbstgewählte Einsiedelei imponiert vielen Menschen, ganz im Gegensatz zur Einsamkeit, zu der man von den gleichen Menschen verdammt wird, weil man abstehende Ohren und Mundgeruch hat, einem in Gesellschaft die Gedanken nicht ordentlich aus dem Kopf wollen oder es einem an Anmut fehlt. Über all diese Verdächte bin ich erhaben, seit ich den Turm bewohne. Das Geländer der Wendeltreppe rutsche ich…

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Das Nähkästchen der schweigenden Oma

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Das Nähkästchen meiner Oma ist bis zum Rand gefüllt mit Schweigen. Und nicht nur das Nähkästchen. Aus Schränken und Schubladen quillt Unausgesprochenes und Regalbretter biegen sich unter der Last unerzählter Geschichten. Und nicht nur meine Oma hortet Worte. Alle Frauen meiner Familie haben stets jeden verfügbaren Raum mit ihrem Schweigen gefüllt. Wenn Schweigen Gold wäre, wir wären unbeliebter gewesen als eine jüdische Bankiersfamilie. Nur aus ihren Augen sprach leise ein unstillbarer Hunger und ein unheilbarer Schmerz. Die Männer waren verrückt nach ihnen, aber sie waren nur verrückt nach sich selbst. Dieses Erbe trage ich, auch wenn es mir nicht behagt….

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Spirituelle Krämpfe

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Während andere Leute sich über jeden Moment freuen, an dem sie nicht ausgebombt werden, steht das Haus, in dem Sara Pelzfuß lebt, von internationalen Konflikten unbehelligt, im Hinterhof einer schmalen Straße. Die Nachbarschaft brummelt, wenn der Hauswart das Kleinblättrige Immergrün nicht im Zaume hält, sie grimmt, weil er nicht von Anfang an stattdessen Blaukissen gesät hat und liegt ein Damenhygieneartikel in der Einfahrt, beginnt sie zu schrillen. Sara Pelzfuß hat die leisen Töne lieber. Das ist altmodisch, denn heutzutage muss man heulend, kreischend und pfeifend seine Ansichten kundtun; wer nicht in einem Zelt abgefackelt oder mit Gewehrkolben totgeschlagen wird, muss…

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Obertöne

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Ich mag keine Jahrestage. Anfangs sind die noch aufregend, wenn man keine eigenen Erinnerungen hat, aber irgendwann treffen sich dann Bombenattentat, Geburtstag vom Herzensfreund, der sich mit Absicht zu Tode gesoffen hat und das Jubiläum von Eddy Grants erster Hitsingle am selben Tag und man fragt sich, warum einen nicht längst der Teufel geholt hat, obwohl man weiß, dass der Teufel einen heutzutage holt, indem er einen da lässt, wo man ist. Dazu kommen die Jahrestage der Lebenden, an die man mit vorwurfsvollen Untertönen erinnert wird, weil man das erste gemeinsam gegessene Vanilleeis vor sechs Jahren vergessen hat. So entstehen…

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Muscheln im Gebirge

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Leute, die, um zu illustrieren, dass die Dinge sich jederzeit in ihr Gegenteil verkehren können, darauf hinweisen, man habe im Gebirge Muscheln gefunden, sind mir suspekt. Zum einen ist der Ozean nicht das Gegenteil des Gebirges, zum anderen kommen Muscheln auch in süßen Gewässern vor, warum also nicht im Gebirge? Und überhaupt hat man keine Muscheln, sondern lediglich ihre Schalen im Gebirge gefunden. Eine Binsenweisheit bleibt eine Binsenweisheit, auch wenn man sie vor ein imposantes Panorama stellt. Durch eine Kränkung wird die vermeintliche Liebe zu Hass oder wenigstens zu Gleichgültigkeit und die Leute wollen nicht kleinlich erscheinen, deshalb vergleichen sie…

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Kowalskis Besuch

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In der Realschule hatte ich sehr für Kowalski geschwärmt. Freilich war ich nicht die Einzige. Es gab kaum ein Mädchen, das nicht davon träumte, seine Auserwählte zu sein. Bei den Jungs verhielt es sich wahrscheinlich nicht viel anders, aber die trugen es nicht vor sich her wie eine Monstranz. Ich hatte niemals Anstalten gemacht, ihm näherzukommen. Im sozialen Gefüge der Schule hing mir – wie man hier im Süden sagt – der Arsch viel zu weit unten dafür. Da meine Jugendjahre von verschwommenem Unbehagen geprägt waren, fiel das jedoch nicht ins Gewicht. Die kindliche Begierde erschuf ein Band aus schwülstigen…

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Und bist du nicht willig

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Als Kind dachte ich, mein Leben würde in nicht allzu ferner Zukunft durch einen Atompilz beendet. Eine sich mit polternden Schritten nähernde, unaufhaltsame Katastrophe, die mich und alle anderen vollkommen überraschen würde. In einem Augenblick wackle ich morgens mit dem Schulranzen auf dem Rücken die Ludwig-Braille-Straße entlang und im nächsten zerreißt ein Donnerschlag meine Ohren, der grellste Blitz der Welt blendet mich und ein heißer Wind schmort mir den Ranzen ins Fleisch und dann das Fleisch in die Knochen. Oder ich habe Pech und irre noch ein paar Tage blind durch geschmolzene Ruinen, bevor ich an der Strahlenkrankheit sterbe. Selbst…

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Der Chef ist da

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Fröhliches Schnattern und amüsiertes Zwitschern lässt die Wände sanft schaukeln. Mit leichter Hand werfen die Menschen einander Aufgaben und einfühlsame Klatschgeschichten zu. Ein anthroposophisches Tierasyl oder irgendwas mit Gymnastik für die Seele, vermute ich, als ich an dem langgezogenen Bau mit der schmutzrosa Fassade vorüberschlendere. Die Hitze hält die Stadt mit glühender Faust fest und atmet ihr Feuer in den Nacken, doch durch die Fenster des Gebäudes weht ein kühler Hauch von Pfefferminz. Unwillkürlich beschwingen sich meine Schritte und ich lächle sogar ein wenig, doch das vergeht mir sogleich, denn von hinten piekt mich jemand in die Hacken. Ein buckliger…

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Den Finger im Nichts

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Es gibt Verbindungen, die lassen sich einfach nicht lösen. Wenn jemand von Quitten spricht oder Quitten irgendwo zu sehen sind, höre ich sofort ein bestimmtes Geräusch. Die Hand meines Großvaters, die kräftig über den Kunstfaserstoff des Hauskittels reibt, der den Hintern meiner Großmutter bedeckt. Das kann man auch umdrehen und mit dem Kunstfaserstoff beginnen, statt mit der Hand oder man legt das Augenmerk auf die Reibung, wenn man es physikalisch genau nehmen möchte. Wobei man dann auch Ohrenmerk sagen müsste. Das sind Fipsereien, die Sie gerne selbst erledigen können, das ist Geschmackssache. Darum geht es nämlich: Geschmack. Während er den…

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