Das Hier und Jetzt

Man soll im Hier und Jetzt leben, heißt es. Das ist am gesündesten. Wer sich das ausgedacht hat, dessen Hier und Jetzt ist gewiss nicht so ungemütlich wie das von Lupine Pelzfuß, die mit einer dicken Backe an der Bushaltestelle steht. Ein eitriger Backenzahn hat sie aus dem Haus getrieben. Nun schleicht sie im Schattenwurf des Fahrplanständers hin und her, eingeklemmt zwischen den Erinnerungen an die voller Schmerzen durchwachte Nacht und der Aussicht auf in Latexhandschuhen schwitzende Männerhände in ihrem Mund – beides um Längen angenehmer als das Hier und Jetzt.

„Wer also hat sich das ausgedacht?“, fragt ein Uhu, der sich mit rauschenden Flügeln auf der Rückenlehne der Bank am Wartehäuschen niederlässt.

Lupine Pelzfuß wendet den Blick ab. Vielleicht redet das Tier ja gar nicht mit ihr. Der Uhu plustert sich wichtigtuerisch auf und sortiert dann ein paar flaumige Federn auf seinem Kragen.

„Sie brauchen sich gar nicht so verschämt wegzudrehen. Natürlich rede ich mit Ihnen. Ist ja sonst keiner da. Wer geht bei der Hitze schon aus dem Haus? Nur Idioten und Touristen. Also, was glauben Sie: Wer hat sich das ausgedacht mit dem Hier und Jetzt? Na? Na?“ Der Uhu trippelt seitwärts die Lehne entlang, kommt näher und näher. Lupine zuckt mit den Schultern und macht einen Schritt rückwärts, um dem Uhu auszuweichen. Der zwinkert voller Empörung und ein heiseres Krächzen entfährt ihm.
„Verstocktes Ding! Was bildest du dir ein? Denkst wohl, du seist was Besseres. Na warte!“

Der Uhu fliegt auf, flattert bedrohlich vor Lupines Gesicht herum und schnalzt ihr mit einer Kralle geschickt gegen die geschwollene Backe. Tränen schießen ihr in die Augen, der Schmerz nimmt ihr den Atem und sie taumelt gegen das Haltestellenschild.
Als sie sich wieder fängt, sieht sie noch, wie der Uhu mit majestätisch ausgebreiteten Schwingen hinter dem Bus herfliegt.