Der Knochenturm

Ich dachte, das seien Martinshörner gewesen, dabei war es das Heulen der Höllenhunde. Ich steckte kurz die Nase unter meiner Decke hervor und schnupperte nach Brandgeruch, doch nur vertrauter Schlafzimmermuff stieg mir in die Nase, also schlief ich weiter. Die Morgensonne beschien die leere Straße, als ich auf meine Veranda trat, und in der Ferne jammerten die Krokusse, weil keiner kam, um sie zu betrachten. Ich wusste gleich, dass niemand mehr da war, denn ein unendliches Bedauern lag in der Luft. Neugierig spazierte ich durch die Stadt, aus der nicht nur alles Leben, sondern auch die Türen verschwunden waren. In den blitzblank geputzten Wohnungen stapelten sich Vorräte, aufgeschlagene Bücher und unvollendete Bastelarbeiten lagen herum, in einem Garten fand ich sogar ein Alphorn. Vor dem Rathaus ragte ein Turm aus Knochen in den Himmel. Der Aufstieg war beschwerlich und ich grämte mich, keinen Proviant eingesteckt zu haben, doch aufgeben wollte ich nicht. Oben angekommen fand ich zu meiner Überraschung meinen alten Mathematiklehrer vor. Er lag schlafend auf einem Bündel aus grobem Tuch zusammengerollt. Ich hob ein Schienbein auf und stieß ihn damit vorsichtig an. Zunächst war meine Erleichterung groß, nicht alleine auf der Welt zu sein, doch mittlerweile empfinde ich seine Gesellschaft als beschwerlich. Ständig schreitet er mit akkurat abgemessenen Schritten meine Veranda entlang und palavert über Infinitesimalrechnung und Mengenlehre. Nachts flüstert er über diskrete Mathematik und raubt mir den Schlaf. An guten Tagen danke ich der Göttin, dass sie nicht meine Sportlehrerin übrig gelassen hat. An schlechten bete ich um die Rückkehr der Höllenhunde.