Die Feige

Die Nacht ist mir auf den Kopf gefallen. Mit einem Schlag dunkelt es. Davor fürchte ich mich nicht. Es gibt immer einen guten Grund ein Feigling zu sein. Einmal hatte ich Wichtigeres zu tun. Ein ander Mal machte ich mir Sorgen um meinen guten Ruf. Oder war es ein behagliches Leben? Wenn er mich gebeten hätte. ‚Sei kein Feigling, bitte!‘

Von hier oben sieht das Städtchen ganz freundlich aus. Die Hügel am Horizont, davor eine Ebene – ich würde gerne sagen, es sei eine Steppe. Ich schätze Übersichtlichkeit. Deshalb gefällt es mir gut, dieses Haus mit dem Türmchen, am Hang eines Weinbergs. Die Straße zum Städtchen ist breit. Ich würde es gleich sehen, wenn jemand zu mir herauf führe. In einem dieser schwarzen Autos mit dunklen Scheiben. Es kommt längst niemand mehr. Früher haben mich Kinder besucht. Ich vertrage sie nicht, mit ihren Fragen, ihren leuchtenden Augen und ihrer Lebendigkeit. Es war gar nicht so einfach, das Häuschen zu bekommen. Doch mein Leumund war einwandfrei, ich selbst sozial wie materiell solide.

‚Du solltest jemanden anderen suchen. Jemanden mit angenehmem Wesen. Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.‘ Als hätte ich gesucht. Als hätte er selbst nicht auch dazu gehört. Als könnte man wählen, wen man liebt.

Einmal in der Woche spanne ich das Pferd an und fahre ins Städtchen, um Einkäufe zu erledigen. Ich brauche nicht viel. ‚Hinterher ist man immer schlauer‘, sagt die Frau hinter der Ladentheke.
Worte, laut ausgesprochen. Ungewohnt für mein Ohr. Ich erinnere mich daran, wie der Mund des Mannes ganz schmal wurde, nachdem er die Frage ausgesprochen hatte. Als wäre es gar kein Mund, sondern vor langer Zeit mit einer Rasierklinge an der Stelle zwischen Nase und Kinn tief eingeschnitten.

‚Er hat angegeben, bei Ihnen wohnhaft zu sein. Können Sie das bestätigen?‘

Ich wollte lachen und in die Hände klatschen. Rufen: ‚Das glaube ich gern, dass er angegeben hat. Haben Sie gesehen, wie seine Augen dabei blitzen?‘ Doch es war ja gar nicht lustig. So sagte ich nichts. Der Mann ließ die Photographie wieder in der Manteltasche verschwinden. Dieser schwarze Uniformmantel mit silbernen Abzeichen. Damit wir alle Angst bekommen. Die Photographie habe ich lange und aufmerksam betrachtet. Seine Augen. Der Mund. Er konnte so gut sprechen und küssen mit beidem. Die Wangen eingefallen, ein silbrig-schmutziger Schatten auf der Haut. Ob das Dreck war oder Bartstoppeln, das sah man nicht. Im Blick ein Schmerz, ein Spott, ein Leid. Eine verkrustete Platzwunde irgendwo. So war er gar nicht. Das war er ja gar nicht, hoffentlich-vielleicht. Wenn ich bestätigt hätte. Womöglich wäre ganz jemand anders zu mir herauf gekommen. Jemand, mit unangenehmem Wesen. Nur den Kopf geschüttelt, mit konzentriertem Blick. Eine Haarsträhne fiel mir in die Stirn. Fast konnte ich den Atemstoß hören, mit dem er sie mir sanft aus dem Gesicht blies. Beinahe ihn riechen. Tabak und Mirabellenbrand.

Im Sommer lassen die Insekten bis in die Nacht hinein den Weinberg vibrieren. Die Hitze dringt nicht durch die Mauern. ‚Gut, dass du in einem Steinhaus wohnst, leicht entflammbar, wie du bist‘, hatte er in mein Ohr gebrummt. Der stille Moment, selbst die Zikaden schwiegen, wenn er zu mir sprach. Heutzutage, wenn es so ruhig ist, knallt es dumpf in meinen Ohren. Wie Heizungsrohre, die mit aller Gewalt auf nackte Körper geschlagen werden.