Die Flucht nach Sonstwohin

Durchs Treppenhaus heult Höllenwind, Nachbarn verriegeln Türen; anderthalb Momente später sitzt du auf den Stufen, betrachtest durch die Milchglasfenster das Herabfallen der vorletzten Blätter und hältst meinen Brief in den Händen:

„Wenn du das hier liest, bin ich schon in meinem Ruderboot auf Weltumrundungsreise. Längengrad um Längengrad komme ich voran und Tage, viele Tage liegen hinter mir.

Ich trüge keine Liebe in mir, sagtest du zum Abschied und ich hatte keinen Grund, an deinen Worten zu zweifeln. Dann pfiffst du dir und mir ein Liedchen und die Melodie verhakte sich in meinen Erinnerungen.

‚Wohlan!‘, begrüßen mich Delfine und verziehen die Gesichter zu hässlich grinsenden Fratzen. ‚Jeder Zoll ein König, jeder Tag ein neues Abenteuer.‘

Ich nicke und betrachte verzückt den Reigen der Wellen. Mit Muskelkraft umschiffe ich Untiefen und treffe ansonsten alle Richtungsentscheidungen spontan.

Du sagtest, die wahre Heimat sei ein Platz für ein Grab und wenn Sprache aufhöre, wäre jedwede Liebe undenkbar.

Zur Mittagszeit löse ich den Griff von den Rudern und lasse mich treiben. Ich will dir schreiben und weiß doch nicht was. Ich lasse es bleiben und esse ein Brot, auf dass es mir schmecke. Ich dehne den Nacken und strecke die Glieder. Ich summe die Lieder, die du uns einst gepfiffen, verfolge mit Staunen den Lauf der Sonne.“

Gegen Abend sitzt du noch immer auf den Stufen und entnimmst als Proviant deinem Rucksack Kandis sowie zwei Prisen Ewigkeit in Tuben.