Jahrmarkt der Möglichkeiten

Als der Jahrmarkt in unserer kleinen Stadt gastierte, kam mein Freund Jochen morgens unter mein Fenster und rief: „Daniel, Daniel, der Jahrmarkt ist endlich da, der Jahrmarkt ist der heiße Scheiß!“

So redeten wir damals und kamen uns weltgewandt und abgeklärt vor. Aber Jochen hatte vollkommen recht: Der Jahrmarkt war der heiße Scheiß.

Wir Kinder hatten schon seit Tagen mit sehnsuchtsvollen Augen vor den Plakaten an der einzigen Litfaßsäule des Ortes gestanden und uns gefragt, wann endlich der siebte Juni, der Premierenabend, sein würde. Und was das bunte Plakat nicht alles verhieß …

‚Gummo, der Mann aus Kaugummi‘ fesselte unsere Phantasie ebenso wie ‚Die tanzenden Ameisen‘, Millionen von ihnen, die, wie wir uns vorstellten, in einer überwältigenden Choreographie komplizierte Figuren und Tänze vorführen würden. Auch ‚Das Rätsel der 50 Köpfe‘ hatte unsere Vorstellungskraft bereits herausgefordert und mich ein bisschen abgeschreckt.

„Is‘ bestimmt was mit Mathe“, meinte Jochen mit einiger Überzeugung und ich hatte entschieden genickt, da mich die Aussicht, dass ich mein sauer Erspartes ausgeben sollte, um anderen beim Lösen von Matheaufgaben zuzuschauen, nicht wirklich erbaute. Da waren ‚Der Mann, der sich in Luft auflöst‘ und ‚Rose, die Mantikerin‘ schon ganz andere Kaliber, wenn ich auch mit dem Begriff ‚Mantik‘ nicht wirklich etwas anfangen konnte.

Abends haben Jochen und ich uns dann zum Jahrmarkt gestohlen. Was nicht sonderlich schwer war, weil Jochens Eltern in dieser Woche Spätschicht hatten, und meine schon seit sechs Tagen betrunken waren. Fünf Richtige im Lotto hatten bei meinem Vater die Korken seit letztem Wochenende kontinuierlich knallen lassen, und meine Mutter ließ sich in solchen Dingen wahrlich nicht lumpen.

Jochen wollte ‚Die Zwillinge mit den drei Herzen‘ sehen und ich wollte mich erst ein wenig orientieren, bevor ich dann doch ins Zelt von Rose schlüpfte. Sie sah in echt noch aufregender aus als auf dem Plakat und sie roch nach Nelke und Moschus. Vor ihr auf dem Tisch lag eine sich müde windende Taube, die sie mit ihren lackierten Fingernägeln festhielt.

Rose schien nicht übermäßig überrascht, mich zu sehen und wies mich mit einem Kopfnicken an, vor ihr auf dem Stuhl Platz zu nehmen.

„Du möchtest also etwas über deine Zukunft erfahren, Daniel“, sagte sie gedehnt und ohne mich zu wundern, woher sie meinen Namen kannte, antwortete ich: „Wenn’s beliebt.“

Die Wahrsagerin, denn das war sie ohne Zweifel, hielt mit der linken Hand den Vogel, während sie mit der Klinge ihres rechten Zeigefingernagels den Bauch der Taube sauber aufschlitzte.

Vielleicht täuscht mich meine Erinnerung an dieser Stelle, aber es war mir, als ob ich sehen konnte, wie die Lebenskraft aus dem klaffenden Bauch des Vogels entwich; mir wurde ein bisschen übel beim Anblick des offenliegenden Körpers.

Rose sah bestürzt aus, während sie die Ordnung der Organe studierte. Sie schüttelte den Kopf und machte mit der Zunge ein Geräusch, das dem ähnlich war, welches meine Großtanten immer machten, wenn ich Suppe beim sonntäglichen Familienessen kleckerte oder wenn ich es wagte, die Gabel in die falsche Hand zu nehmen. „Ts, ts, ts“, machte Rose und ich ahnte, dass das nichts Gutes verhieß. „Mein lieber Junge, da hast du aber einiges zu lernen in diesem Leben! Mannmannmann, dir bleibt aber auch wirklich nichts erspart. Und immer mit so viel Hoffnung im Vorfeld. Ts, ts, ts.“

Rose bekreuzigte sich dreimal und gab mir die Taube mit auf den Weg. Ich bedankte mich und zahlte eine Mark und 50 Pfennige am Ausgang.

Draußen traf ich Jochen und er erzählte mir, dass er im ‚Geisterhaus der Träume‘ gewesen wäre und er sah mindestens so beschissen aus, wie ich mich fühlte.