Lebensumstände

Ich wohne in einer zentral gelegenen 2½-Zimmerwohnung ohne Balkon und Meerblick. Seit zwei oder drei Jahren habe ich keine Nachtigall mehr gehört. Vorher jedes Jahr, bestimmt 20 Frühlinge hintereinander.
Eines Morgens bemerkte ich zu meiner sehr geringen Freude, dass sich mehrere Kohorten Termiten ein Lager errichtet, und sich häuslich in meinem großen Zimmer, das ich in besseren Tagen als Wohn- und Musizierzimmer nutzte, niedergelassen hatten.
Groß war mein Erstaunen, mäßig mein Entsetzen ob meiner sehr dynamisch erscheinenden Mitbewohner; sie waren äußert aktiv und schufen Behausungen, Gebäude von nahezu graziler Anmut, die selbst ein in architektonischen Dingen unbewanderter Mensch wie ich unschwer als Wohnhäuser, Bildungs- und Spielstätten,Tempel des Konsums sowie der religiösen Verehrung identifizieren konnte. Kurzum, alles, was eine funktionierende Gesellschaft und Kultur ausmacht, hatten die Sechsbeiner in einer für menschliche Verhältnisse unvorstellbar kurzen Zeit aus dem, was sie in meinem Zimmer finden konnten, erschaffen und auf Hochglanz gebracht. Was in Folge jahrelanger Vernachlässigung durch mich staubig und stumpf geworden war, schimmerte und schien nun wie neu.
Ich ahnte inzwischen, dass mein Anrecht auf das Wohnzimmer oder zumindest seine Nutzung wie ein Soufflé in sich zusammengefallen war. Die Termiten wirkten nicht sonderlich verhandlungsinteressiert, genau genommen nahmen sie keinerlei Notiz von mir, was ich auf eigentümliche Art fast beruhigend fand.
Es kam, wie es kommen musste, es kam, wie es immer kommt; man gewöhnt sich. An die Umstände, aneinander, und ehe ich mich versah, hätte ich die Termiten, die sich, nicht zuletzt durch die guten Lebensbedingungen, die ich ihnen durch jahrelanges Sammeln und Horten von verwert- und verzehrbaren Dingen, bot, prächtig entwickelten und vermehrten, gar nicht mehr missen möchten.
Die Situation war stabil: Das kleinere der beiden Zimmer genügte meinen Ansprüchen völlig und die Termiten bauten mittlerweile bevorzugt in die Höhe und machten keinerlei Anstalten, sich in der Fläche der restlichen Wohnung auszudehnen. Einzig die Tatsache, dass ich aus dem Schlafzimmer heraus die Nachtigallen nicht mehr hörte, trübte die neugewonnene Zufriedenheit mit meiner Anpassung an die Umstände, und störte mich mehr, als ich mir selbst eingestehen wollte.
„Was du brauchst“, sagte neulich ein seltener Gast zu mir, „ist ein Ameisenbär. Und ja, bevor du es einwendest, die fressen auch Termiten.“
Ich beobachtete das Soufflé, das ich zur Feier des Anlasses zubereitete, durch das Fenster im Ofen.
„Ich weiß nicht“, gab ich vorsichtig zu verstehen, „wir haben uns so aneinander gewöhnt, die Termiten und ich.“
Wie es der Zufall wollte, hatte mein Gast einen Ameisenbären im Rucksack.
„Lass mich nur machen“, sagte mein Gast und ließ das überaus hungrig wirkende Tier im Wohnzimmer frei. „Wirst schon sehen, das geht ratzfatz.“
Das Gemetzel, das folgte, war kaum zu beschreiben. Gerade als ich die Ofentür geöffnet hatte, rettete sich der Ameisenbär schwer versehrt zu meinem Gast und mir in die Küche. Das Soufflé verpuffte und kollabierte schneller, als ich „Oh weh!“ sagen konnte.
Der Gast steckte den jammernden und wimmernden Ameisenbären zurück in den Rucksack. „Ich muss jetzt gehen“, sagte der Gast und drängte zu Tür.
Enttäuscht verfütterte ich die Eierspeise an die wenigen Überlebenden unter den Termiten und öffnete seit langer Zeit wieder einmal das Fenster. Ungewohnt frische Luft drängte ins Wohnzimmer und ich, ich hörte draußen die Nachtigallen trapsen.