An dem Haar, das aus deinem Ohr wächst, hangle ich mich langsam nach oben. Jetzt ist es nicht mehr weit, ich kann den Flickenteppich aus Leibern der Frauen, Männer, Kinder im Strandbad hinter dem Lattenzaun schon gut erkennen: Eingeölt und mariniert wie Grillgut wellen sich meterweise Stücke Haut im Sonnenbrand.
„Willst du jetzt rüber?“, fragst du.
Wenn ich könnte, würde ich die Schultern zucken. Seltsam, die andere Seite reizt mich nicht mehr wie noch vor fünf Minuten, als ich dich bekniet habe, mir dein Haar zur Verfügung zu stellen. Ich rutsche das Haar hinab, lande sicher auf dem Boden. Ich lasse das Haar los, es schnellt wie eine Metallfeder hoch und kräuselt sich in deiner Ohrmuschel. Du musterst mich missbilligend und herablassend.
„Bitteschön!“, sagst du spitz. „Du wolltest doch Frauen angucken, was ist mit dir, bist du feige, oder was?“
„Feige nicht“, antworte ich nach einem Moment des Zögerns. „Als feige würde ich es nicht bezeichnen.“
„Wie würdest du es denn sonst nennen?“
„Ehrgeizbefreit. Ich glaube, das trifft es am besten. Oft ist der Ehrgeiz die größte Barriere für uns sehr kleine Leute. Dann muss alles extra toll und erfüllend und was-weiß- ich-nicht-noch-alles sein. Wahrscheinlich aus Kompensation für die mangelnde Teilhabe an der Welt der Großen, keine Ahnung. Jedes Stöckchen ein Baumstamm, jede Kerbe eine Schlucht. Das ist nicht schön. Das ist sogar im Gegenteil ziemlich beschissen. Ich komme nun einmal nicht aus eigener Kraft ans Wasser.“
„Das verlangt ja niemand“, räumst du etwas kleinlaut ein. „Ich am allerwenigsten.“
Ich höre die Wörter, aber will sie nicht glauben.