Literarisches

Der schielende Spiegel

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Meinem Vetter Bruno stand der Mund schief im Gesicht wie ein schlampiger Behördenstempel und eine dunkle Braue lag wie ein Baumstamm über seinen Augen. Onkel Gernot zog ihn damit auf. „Bei Bruno merken wir, dass er alt wird, wenn Moos auf seiner Augenbraue wächst.“ Tränen liefen schnurgerade über Brunos Wangen, so dass sein Mund noch schiefer wirkte. „Hänsel den Bruno nicht!“, mahnte meine Großmutter dann, aber sie meinte es nicht ernst. „Ich hänsle ihn nicht, ich mag den Bruno doch“, erwiderte Onkel Gernot. So war das in unserer Familie. Allein die Liebe bewahrte einen davor, dem anderen ein Leid zuzufügen,…

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Der Salat des Heiratsschwindlers

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Tage vergehen. Ich werde mir jetzt mal einen Salat machen. Denn schließlich, und das gilt es gerade für einen Mann meines Standes zu beachten, ist unser Körper heilig und dementsprechend pfleglich zu behandeln. Wenn das Wetter mitspielt, werde ich morgen anfangen zu schwindeln. Ihr sollt dann mal sehen, was ein Kavalier alter Schule noch so drauf hat. Den Salat mache ich sicherheitshalber erst später – nichts wäre doch bedauerlicher, als wenn seine Kraft zu früh verpuffte und sie mir beim Heiratsschwindeln dann nicht mehr zur Verfügung stünde – ich esse stattdessen eine Handvoll Nüsse und rauche eine Zigarette. Tage vergehen….

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Möglichkeiten

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Mein Großvater war stets darum bemüht, klüger zu wirken, als er es tatsächlich war. So pflegte er zu sagen, er habe den Braten längst gerochen, wenn er jemandem auf die Schliche gekommen war. Als sei das Riechen eines Bratens eine komplizierte Sache, die besondere Fertigkeiten oder geheime Kenntnisse erfordere. Dabei bog sich die Gasse sonntags unter Bratenduft und jeder, der eine Nase hatte, konnte schwerlich etwas anderes riechen. Nun sind meine Großeltern längst gestorben und ich vermisse beide nicht, denn sie haben unserer Familie viel Unheil gestiftet, das auch der prachtvollste Sonntagsbraten nicht wettzumachen vermochte. Hätten die beiden etwas länger…

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Seeanemone

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Für das neue Jahr habe ich mir vorgenommen, nicht mehr zu erschrecken, wenn ich Geister und Gestalten aus dem Augenwinkel in meiner Wohnung entdecke. Kein Zusammenzucken mehr, meinem Mund wird kein weibisches Huch! mehr entfahren, wenn ich mal wieder heimgesucht werde. Coolness und Contenance sollen meine neuen Säulenheiligen sein. Gerade gestern, ich führte ein Selbstgespräch, was ich manchmal tue, um bei einer möglichen, mir begegnenden zukünftigen Konversation nicht um Worte verlegen zu sein, überzeugte ich mich, von nun an Gelassenheit und nicht mehr Sorge, mein Leben bestimmen zu lassen. Da bemerkte ich, dass mir die ganze Zeit ein Gespenst auf…

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Vorsätze

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Für das neue Jahr habe ich mir vorgenommen, mir einen Mantel aus Efeu wachsen zu lassen, wie der Baum vor meinem Fenster einen trägt. Seit ein paar Tagen stehe ich regungslos neben dem Baum und es schlängeln sich bereits einige zarte Ranken um meine Knöchel. Die Krähen umflattern mich und rufen mir zu: „Warum denn kein Mantel aus wildem Wein? Das ist extravagant und im Herbst würdest du in kräftigem Rot erstrahlen.“ Aber die Weinranken dröhnen im Sommer vom Summen der Bienen und Wespen, da kann mir die ganze Extravaganz gestohlen bleiben. Außerdem steht mir Grün besser. So ein Efeumantel…

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Abschluss

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Pletha, der Kreter sagte laut und überdeutlich: „Ich hasse Menschen, die andere beurteilen und werten.“ Er zog vor uns eine Uniform an und fühlte sich endlich wie Wurst in Pelle und nicht mehr nur wie formloses Brät. Wir anderen sammelten uns im Halbkreis – unter Wahrung eines gewissen Sicherheitabstands – um ihn; Pletha war im Ort für seine oftmals recht feuchte Aussprache bekannt, man tat gut daran, ihm nicht zu nah zu kommen. Dann fing er an zu schreien. Und zu spucken. Er schrie und er spuckte, er schaute uns Zivilisten dabei verächtlich an: „Ich muss mich nicht entscheiden. Ihr…

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Jedem Anfang wohnt ein Ende inne

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Es heißt, in der tiefsten Nacht sei das Licht nicht mehr weit. Wahrscheinlich heißt es anders und irgendein Schlaumeier weiß, wie man richtig sagt. Denn einen Schlaumeier findet man selbst in der tiefsten Nacht, ohne danach zu suchen. Ich frage mich, warum es dann auf der Welt so viele Laubbläser gibt. Der alte weiße Mann unter den Gartengeräten. Eine unpassende Metapher ist das. Ich habe nämlich nichts gegen alte weiße Männer, im Gegenteil. Was ist überhaupt der Unterschied zwischen einer Analogie und einer Metapher? Nie weiß ich das! Aber ich schäme mich nicht deshalb. Ich habe andere Vorzüge. Zum Beispiel…

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Vom Finden

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Eines Tages war mein Hut weg. Einfach weg, einfach weg. Verzweiflung stieg in mir auf, denn mein Hut war weg, einfach weg. Gestern noch hatte er mich geschützt, meinen Kopf geschützt, vor Regen geschützt. Nun war er weg, einfach weg. Die Zeiten waren nicht gut, sind es noch immer nicht. Zu sagen, sie seien schlecht, war unmöglich geworden, unausgesprochen verboten. Die Zeiten waren nicht gut und sind es noch immer nicht. Ich beschloss, ihn zu suchen, im Wald zu suchen. Ich machte mich auf, unbeschützt auf, meinen Hut im Wald zu suchen, zu suchen, fest entschlossen, ihn zu finden. Ich…

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Ein echter Mann

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Auf dem Gehweg bleibt heute nur ein schmales, eisiges Band, auf dem man zwischen aufgetürmtem Schnee dahinwackeln kann. Vor mir geht ein Mann. In der einen Hand trägt er eine Plastiktasche mit Aufdruck eines Lebensmittel-Discounters, in der anderen hält er eine Leine, an deren Ende ein Schäferhund hängt. Der Mann stellt die Tasche in einer Mulde im Schnee ab und kratzt sich ausgiebig die Ritze zwischen den Hinterbacken. Da ich weder ausweichen noch überholen kann, betrachte ich sein Tun ohne Freude. „Glauben Sie ja nicht, Sie könnten meine Tasche schnappen!“, herrscht er mich über die Schulter an. „Zeus, pass auf!“,…

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