Unter all den Warnungen, die man mir als Kind aussprach, machte mir die vor dem Schlendrian den meisten Eindruck. Man müsse sich hüten, sonst zöge er bei einem ein. Da damals noch der Herr mein Hirte war, schien es mir ratsam, eine so wichtige Aufgabe jemandem zu überlassen, der sich mit sowas auskannte. Schafe kannte ich nur aus dem Bilderbuch und vom Ponyhof – ich entstamme einer Familie von Schneidern und Ingenieuren, aufs Hüten verstand sich da niemand.
So blieb ich vom Schlendrian verschont, bis ich eines Tages vom Glauben abfiel. Das passiert vielen, wenn das Leben etwas länger dauert. Man ist mit Alltäglichkeiten beschäftigt, lernt Statistiken zu lesen und erhält allerhand banale Erklärungen für Wunderdinge, die einen zuvor in Erstaunen versetzen konnten.
Die Stimme des Herrn war kaum verstummt, als es an der Tür läutete. Ein Mann mit Halbglatze und roter Nase stand dort. Er trug einen Blaumann und hatte eine Werkzeugkiste bei sich. Die Hausverwaltung schicke ihn und er solle die Wasseruhr ablesen, teilte er mir nach einem langatmigen Gruß mit.
Ich bat ihn herein und machte mich wieder an die Arbeit oder was ich dafür hielt. Der Mann wanderte durch die Wohnung und machte keine Anstalten, sich mit der Wasseruhr zu befassen. Stattdessen beäugte er interessiert meine Papierstapel.
„Schöne Stapel haben Sie da“, meinte er und stupste einen mit dem Finger an. Der Stapel erschauerte unter der ungewohnten Berührung und fiel mit ängstlichem Rascheln in sich zusammen.
„Die Wasseruhr ist im Badezimmer“, sagte ich ungehalten und stand auf, um ihm vorauszugehen, bevor er noch mehr Unruhe stiften konnte.
„Wollen Sie die Papiere nicht wieder stapeln?“, rief er mir hinterher.
„Das mache ich später“, antwortete ich.
Als er nicht auftauchte, ging ich nach einer Weile ins Wohnzimmer zurück, sah ihn aber nicht.
„Ich bin hier“, hörte ich ein dünnes Stimmchen rufen, fast wie das von Gott.
Der Mann war geschrumpft, maß gerade noch eine Handbreit. In einer Ecke hatte er ein Puppenhaus aufgestellt und saß dort auf dem Sofa, die Beine hochgelegt.
„Lassen Sie sich nicht stören! Tun Sie, als sei ich gar nicht da! Ich werde Ihnen gewiss keine Umstände machen.“ Er öffnete eine winzige Bierflasche und nahm einen Schluck.
Tatsächlich macht er keine Umstände. Manchmal macht er einen Spaziergang durch die Wohnung und lässt meine Stapel zusammenfallen. Abends bitte ich Gott um Hilfe, aber er antwortet nicht.