An den Ohren herbeigezogen

Manchmal dauern die Dinge. Mit den Jahren stelle ich fest, dass einem im Leben insgesamt doch wenig Spontanes und noch weniger Plötzliches widerfährt. Umso erstaunlicher die Geschichte, von der ich heute erzählen will.

Ich saß eines bewölkten Tages im April an meinem Schreibtisch und betrachtete die Härchen auf meinen Handrücken. Mal atmete ich links und ließ die Haare erzittern, mal atmete ich rechts. Meine Erinnerung ist nicht mehr, was sie vor der Pest war, und so weiß ich nicht, wie es kam, dass ich die Hände an den Kopf führte und mir mit rascher Heftigkeit an beiden Ohrläppchen zog.

Als wäre ein Kurzschluss ausgelöst worden, ließ ein gewaltiger Knall die Wohnung erbeben und die Fensterscheiben erzittern. Ich hatte mir vor Schreck auf die Zungespitze gebissen und konnte das Blut schmecken, da zupfte etwas an meinem Hosenbein.

„He, was soll das?“, lispelte ich schmerzerfüllt unter den Schreibtisch. Das Zupfen hörte sofort auf. „Wer ist denn da?“

Ein etwa stiefelhoher Mann kam unter dem Tisch hervorgekrochen und winkte mir beschwichtigend zu. „Was das soll?“, sagte er mit einer für seine Kleinheit bemerkenswert tiefen Stimme. „Das frage ich dich. Du hast mich ja herbeigerufen.“

Bevor ich das Wie erfragen konnte, ergänzte er erklärend: „Du hast dir doch wohl gleichzeitig an beiden Ohrläppchen gezogen, sonst wäre ich nämlich nicht erschienen.“

„Und jetzt?“, fragte ich, von der Situation reichlich überfordert. „Was machen wir jetzt?“

„Fragen, Fragen, nichts als Fragen“, brummte er, wie es mir schien, ziemlich genervt. „Nimm die Dinge doch einfach mal hin. Man muss nicht immer alles durchdenken und durchschauen wollen. Aber hör zu, ich will dir, bevor ich wieder weiter muss, einen Ratschlag erteilen.“

Der kleine Mann hielt inne. Er genoss sichtlich die Verwirrung in meinen Augen, kostete seine Kunstpause aus, bis ich mich ein wenig ungeduldig werdend räusperte.

„Also gut“, hob er an. „Dann will ich mich nicht lang bitten lassen. Bedenke immer: Gefährlich wird es erst, wenn man denkt, dass man normal ist. Denn normal ist es zu denken, dass man nicht normal ist.“

Ich blickte ihn fragend an, traute mich jedoch nach seiner vorangegangenen Zurechtweisung nicht, auszusprechen, dass ich überhaupt keinen Schimmer hatte, wovon er eigentlich redete.
Er machte auch nicht den Eindruck, dass er irgendeine Erwiderung erwartete. Er zog recht freundlich seine kleine Mütze zum Abschied und verließ, ein Liedchen summend, mein Arbeitszimmer.
Ich sah ihm nach und dachte, jetzt ist mir doch wahrhaftig etwas Plötzliches passiert. Wer hätte das gedacht? Und das auf meine alten Tage.