Jenseits von Grimm

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Ich ziehe die Stadt mir aus der Nase, Stück für Stück und alle Brocken einzeln. Einen Hauch von ihm, einen Anflug von ihr, ein wenig Alexanderplatz zerreibe ich zwischen kleinem Finger, Daumen und schnippe die Stadt in hohem Bogen von mir fort. „Hey, haste nix zu tun?“, ruft man mir zu. „Nix Besseres?“ Ich ziehe bedauernd einen Flunsch und äußere den Wunsch, die Welt möge sich für mich von außen her verbessern. Und Hilfe naht in Gestalt einer schlecht als Händlerin verkleideten, jungen Frau. „Schöne Ware feil! Schöne Ware, kauft schöne, schöne Ware!“ „Was hast du denn in deinem Korb,…

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Der Hässliche

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„Wie oft soll ich denn noch sagen, dass ihr nicht die Tauben füttern sollt?“, ruft die Mutter. „Wenn ihr unbedingt eure Brötchen in der Gegend herum schmeißen wollt, dann gebt sie den Spatzen!“ Manchmal sieht man, versteht man die Dinge besser aus ein paar Schritten Entfernung. Ich habe noch nie längere Zeit irgendwo hingeschaut, ohne dass ich ein Drama, eine Komödie oder gar eine Tragödie entdeckt hätte. Im Rücken heute ein Blumenfeld, vor mir der Fluss. Mein wenig erfreuliches Äußeres lässt ältere Damen den Griff ihrer Handtaschen festhalten, lässt Männer erstarren und Kinder weinen. Wenn Kinder eines gewissen, geringen Alters…

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Heutzutage oder Fäkal territoriale Betrachtungen

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Wisst ihr Schnösel überhaupt noch, was ich hier mache? Ich schreibe, ihr Fatzken. Ja, mit der Hand, so wie ich es gelernt habe. Was? Wie bitte? Ihr habt vielleicht Vorstellungen. Natürlich ging der Alltag zwischen den Bombenangriffen weiter – wir sind ganz normal zur Arbeit gegangen. Das heißt, natürlich nur, wenn der Betrieb, die Fabrik, das Amt nicht ausgebombt worden waren. Da hat fast niemand gejammert, da hat kaum jemand geklagt; ausgenommen die Leute, die gerade Angehörige verloren hatten. Die haben schon mal ein Tränchen verdrückt, schon mal einen Kloß runterschlucken müssen. Kann man doch verstehen. Und heutzutage? Wenn ich…

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Dies irae

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„Da oben fehlen nur noch zwei“, sagte er und deutete auf ihr Gesicht. „Wenn du noch zwei Warzen mehr hättest, wäre dein ganzer Körper von ihnen bedeckt.“ Sie nahm es gelassen hin und pickte mit spitzen Fingern Pralinen aus der Schachtel. „Möchtest du vielleicht Konfekt? Der schmeckt.“ Er lehnte dankend ab. Der Gedanke an Vollkommenheit ließ ihn nicht los. „Ich finde, 3248 Warzen ist eine hässliche, eine dumme Anzahl. Zwei mehr, stell dir das mal vor, und die Zahl wäre gleich viel runder. Viel … äh … positiver Und da sie nicht reagierte, fügte er trotzig hinzu: „Das wird man…

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Kapitän Wahab und die Posaunistin

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Als der alte Kapitän Wahab schon längst nicht mehr zur See fuhr und seine Tage meist in seinem Garten auf der Suche nach seltenen Insekten verbrachte, klingelte eines Morgens eine junge Frau an der Haustür. Der Hund schlug an und Kapitän Wahab schlich, auf einen knorrigen Ast gestützt, durch die Diele. „Wer ist da?“, fragte er mit von Stürmen gebeutelter Stimme. „Ich bin es, Großvater, deine Enkelin Gerlinde.“ Kapitän Wahab seufzte erleichtert auf. Zwar hatte er weder Kinder noch Enkel, aber wenigstens war es nicht der Gelbe Piet, der ihm einst Rache geschworen hatte, weil er sich von Wahab beim…

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Vom Handwerk

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Schreiben. Einfach mal über das Schreiben schreiben. Das lesen die Leute gern, heißt es. So fühlen die Leute sich dem Schreibenden nah, heißt es. Die Leute lesen gern vom Bergbau Sprache – vom Schürfen, vom Graben nach Geschichten: Ich reite auf einem wilden Esel, ich halte mich an seinen Haaren, seiner Mähne fest, damit ich nicht falle, damit ich unterwegs nicht abgeworfen werde. Wenn der Esel eine Pause macht, wenn er innehält, um zu grasen, um zu trinken, schreibe ich ‚Meine Erlebnisse von Unterwegs‘ nieder. Wenn es wirklich ein Buch wird, ein Buch, das Leute lesen, umso besser. Ich schreibe…

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Die Suche hat ein Ende

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Was das da in der Ecke ist? Nein, das ist kein Krug. Das ist der Heilige Gral. Ja, der echte und ja, den habe ich schon lange. Brauchen? Nein, ich brauche ihn eigentlich nicht, den lagern drei Weise zur sicheren Aufbewahrung in meiner Wohnung. Eine Zeitlang habe ich die Köpfe von Schnittblumen darin schwimmen lassen, aber an dem Anblick habe ich mittlerweile alle Freude verloren. Ich habe schon überlegt, ob ich ätherische Öle oder duftende Essenzen reinschütten soll, auch, aber nicht nur wegen des Gestanks, der dieser Tage von draußen durch die Fenster dringt. Doch dann stellte ich zu meinem…

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Santa Cassilda

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In der Mitte meines Zimmers hat sich ein Loch aufgetan – ein Loch, bestimmt 20 Meter tief. Aus ihm dringen Gefahr verheißende Geräusche, gestern Abend hörte ich eine Frau weinen. Ich rief in das Loch und bot meine Hilfe an, doch die Frau ließ sich durch meine Worte nicht beruhigen. Vielleicht hat sie mich auch nicht verstanden, was mich nicht wundern würde, denn um sie herum wurde geschrien, geschossen, gehupt, geknallt und gehämmert. Die Frau hat möglicherweise Hunger, urteilte ich und eilte in die Küche. Irgendwo war doch bestimmt noch etwas Essbares. In einer Ecke des Kühlschranks fand sich eine…

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Étude

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Ich vermute, und es ist nur eine ganz unwissenschaftliche Ahnung, die ich manchmal in einsamen Stunden für mich hege, dass meine Vorgesetzte eine Schwäche für mich hat und pflegt. Sagen wir doch, wie es sich mir darstellt: Sie himmelt mich an. Wenn ich, über mein Mikroskop gebeugt, meiner Arbeit nachgehe und ihren Atem in meinem Nacken spüre, pimmelt es in meiner Hose. Das ist meist ein deutlicher und beweiskräftiger Indikator. Sie lässt mich gerne länger arbeiten. Die Wissenschaft verlangt Opfer, sagt sie mit Blick auf die Ausbeulung unter meinem knappen Kittel. Unter der Linse meines Mikroskops wimmelt es: Pantoffel- und…

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Studie über Kurzschlüsse & Kernschüsse der Seele oder: Das Wandellose Licht wob einen Schleier

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Prolog: Sagt er zu ihr: „Iss mal sinnlich ’ne Tomate!“ „Wie ist es denn so?“, fragt sie ihn und lächelt verführerisch. „Jeden Tag ein bisschen besser. Jeden Tag ein bisschen mehr.“ Sprachkörper 1: Das Weben hat seine Aktualität in dem Gewebten Stereotyp die Antwort, stereotyp das Gefühl. Erst einmal neue Rituale schaffen; Automatismen müssen greifen. Und dann wieder Zeiten – manchmal Minuten, manchmal Stunden – in denen sich das Innere Ich in seine Einzelstimmen zerfasert. Wohlmeinende, hofft man inständig, denn sie sind einem doch recht nahe. Sie zu verlachen würde nicht helfen, wäre wohl als Zeichen an die Außenwelt, als…

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