„Wie oft soll ich denn noch sagen, dass ihr nicht die Tauben füttern sollt?“, ruft die Mutter. „Wenn ihr unbedingt eure Brötchen in der Gegend herum schmeißen wollt, dann gebt sie den Spatzen!“
Manchmal sieht man, versteht man die Dinge besser aus ein paar Schritten Entfernung. Ich habe noch nie längere Zeit irgendwo hingeschaut, ohne dass ich ein Drama, eine Komödie oder gar eine Tragödie entdeckt hätte. Im Rücken heute ein Blumenfeld, vor mir der Fluss. Mein wenig erfreuliches Äußeres lässt ältere Damen den Griff ihrer Handtaschen festhalten, lässt Männer erstarren und Kinder weinen. Wenn Kinder eines gewissen, geringen Alters weinen, dann ist die Ursache für den oberflächlichen Beobachter oft nicht sofort klar zu bestimmen. Am besten ist es für das eigene Seelenleben, nicht alles auf sich zu beziehen. Das stämmigere der beiden Kinder – Mädchen oder Junge spielt für den Fortgang dieser Geschichte keine Rolle – findet, dass die Tauben alles in allem hungriger und bedürftiger als die Spatzen aussehen und füttert sie munter weiter. Vielleicht erkennt es aber auch bloß den Unterschied nicht. Ich gebe insgeheim der Mutter recht, obwohl die mich anschaut, als ob ein Mann mit meinem Gesicht per se nur Schlechtes und Unaussprechliches im Sinn haben kann.
„Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie so unvermittelt anspreche“, eröffne ich mit meinem verbindlichsten Lächeln, einem Gesichtsausdruck, der in der Vergangenheit schon mehrfach als ‚grässliche Fratze’ bezeichnet wurde. „Ich sehe, Sie haben Erziehungsprobleme.“
Ich weiß aus zweifelhafter Erfahrung, dass es Menschen grundsätzlich schätzen, wenn man Interesse an ihren Geschöpfen zeigt, Eltern nicht weniger als Hundebesitzer oder Orchideenzüchter. „Sind das Jungen oder Mädchen?“
„Jungen!“ antwortet die Frau in übertriebener Entrüstung. „Das sieht man doch.“
„Reizend. Ganz reizend.“ Ich schnalze mit Zunge und deute auf die durch die Luft fliegenden Krumen. „Ich würde Ihnen in Anbetracht Ihrer augenscheinlichen elterlichen Schwierigkeiten gerne ein Angebot unterbreiten.“ Ich nestle umständlich an meinem Bauchbeutel herum und fördere drei Eicheln zutage. „Diese drei Eicheln gebe ich Ihnen für einen der beiden Knaben. Welcher ist egal – die sehen beide gutgewachsen und wohlgenährt aus.“
Die Mutter zögert einen Augenblick und entsprechend erhöhe ich das Angebot; ich drehe mich um und breche ihr eine Sonnenblume – die Frau nickt.
„Suchen Sie sich einfach einen aus“, sagt sie. „Der Dicke rechnet ein bisschen besser, dafür malt der andere Spinnen und Insekten, dass Ihnen die Haut juckt.“
Ich entscheide mich für den Dicken mit dem zerrupften Brötchen, der hat zwar nicht das Auge, aber ein bewiesen gutes Herz.