Begegnung

A: Sagen Sie, kennen wir uns nicht?

B: Nicht, dass ich wüsste.

A:
Sie kommen mir so bekannt vor.

B:
Ich bin ein anderer Fettwanst – Sie verwechseln mich.

A: Ich könnte schwören …

B: Tun Sie es lieber nicht!

A: Die Ähnlichkeit ist dennoch verblüffend.

B: Für die Schlanken sehen wir Dicken doch alle gleich aus.

A: Das können Sie jetzt aber so nicht sagen.

B: Doch, doch, das stimmt schon. Ich weiß, was Sie sehen: Schwabbel, fettiger Teint, kleine Augen im speckigen Gesicht, Cellulite auf der Stirn. Ich sehe es doch, mein Anblick widert Sie an.

A: Sie sind ungerecht.

B: Erfahrung hat mich bitter werden lassen.Geben Sie es ruhig zu, als ich eben reinkam, haben Sie doch gedacht ‚Mann, was für ein Koloss! Was für ein Fettleib!‘, stimmt’s?

A: Sie irren. Als Sie hereinkamen, dachte ich etwas völlig anderes, und das ist die Wahrheit, nichts als die lautere Wahrheit.

B: Und was haben Sie gedacht, wenn nicht ‚Mein Gott, was muss ein Mensch in seinem Leben gegessen haben, dass er so unglaublich fett geworden ist?‘.

A: Das möchte ich lieber für mich behalten.

B: Aha! Das ist doch sehr verdächtig, das sagt doch eigentlich schon alles.

A: Ich sagte bereits, dass Sie mich an jemanden erinnern, den ich fast vergessen hatte, mit dem ich, in längst vergangenen Zeiten, sehr eng verbunden war.

B: Und der war auch so fett wie ich?

A: Nein, nein, im Gegenteil, der war ganz lang und dünn. Viel schlanker als ich jedenfalls; die Mädchen kicherten, wenn er kam, weil er so bemerkenswert dürr war.

B: Diesem Mann sah ich ähnlich? Ausgerechnet dieser Bohnenstange?

A: Das ist aber kein schöner Ausdruck. Dieses Wort durfte man ihm gegenüber nicht aussprechen. Nicht einmal denken, nicht einmal in seiner Abwesenheit. Das hat er kontrolliert; er hat uns tief in die Augen geschaut und uns schwören lassen, dass wir das Wort nicht verwendet hatten. Sie haben eine vergleichbare Art, Ihre Körperlichkeit zu thematisieren. Sogar Ihre Stimmlage ist seiner zum verwechseln ähnlich.

B: Bedauere, ich bin es nicht. Ich wünschte fast, ich wär’s. Bohnenstange hat in meinen Ohren einen süßen Klang. Besser als Tönnchen, Specki, Fatty, sogar besser als die Euphemismen Dickerchen oder Pummel.

A: Diese Ähnlichkeit! Frappant! Wie ein Ei dem anderen. Gut, er schnaufte nicht ganz so tief wie Sie, wenn er sprach. Und sein Atem pfiff keine Melodien. Davon abgesehen, könnten Sie sein Zwilling sein. Erlauben Sie, dass ich Sie umarme?

B: Wenn es unbedingt sein muss.

A: Es muss. Komm her, du alberne Bohnenstange!