Kurzgeschichten

Am Puls vergangener Zeiten

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Voller Sorge betrachtet Luzie Pelzfuß die Einladungskarte aus dünnem Karton. Munter geschwungene Buchstaben in grüner Tinte fordern sie auf, mit dem Absender anlässlich eines runden Geburtstags „durch die Jahrzehnte zu tanzen“. Die Adresse am anderen Ende der Stadt, das Datum viel zu nah am Augenblick und die Unterschrift unleserlich. Ganz unten steht noch: Ohne dich sind wir nicht vollständig. Es wird sich wohl kaum jemand finden, der nach einem Jahrzehnte andauernden Leben noch vollständig ist. Ununterbrochen zieht jemand weg, kündigt einem die Freundschaft oder stirbt. Man selbst bleibt zurück mit losen Enden, die einen umhüllen wie ein zottiger Mantel. Ein…

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Die Zeit der Flüsterpest

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Der karmesinrote Husten geht in unseren Landen um. Der größte Teil der Bevölkerung ist nicht seuchenerprobt und weiß kaum etwas mit der neugewonnenen Länge der Tage und Monate anzufangen – es herrscht bedingte Ausgangssperre, wobei sich die in den Medien verbreiteteten Bedingungen täglich, oft zweimal täglich, ändern. Wir haben viel Zeit. Viel Zeit und wenig Geld. Für zwei Rollen Toilettenpapier und ein Fläschchen Sonnenblumenöl haben die Nachbarn aus dem Vorderhaus schon ihren Sohn und ihre Tochter ins Pfandhaus gezerrt und versetzt. Darauf angesprochen, sagte die Mutter, eine ehemals respektable Physiotherapeutin, dass sie jederzeit neue Kinder machen könne. Sie warte jedoch…

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Der Kalif vom Karstadt

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Der Kalif vom Karstadt ordnete ein letztes Mal das Beilagengemüse auf seinem Teller. Ein schmaler Junge stand plötzlich vor ihm, die Hände zu Fäusten geballt. „Bitte, helfen Sie meiner Mutter. Sie ist sehr krank.“ Der Kalif vom Karstadt bestellte einen Espresso und ein Dessert bei der Kellnerin, die das Tablett abräumen wollte. Er hatte alles aufgegessen, nur das blassgrüne Gemüse lag noch da. Und ein Apfel. „Was kann ich tun?“, fragte der Kalif vom Karstadt. Der Junge blickte zu Boden. „Sie ist sehr krank. Bitte helfen Sie ihr!“ Der Kalif vom Karstadt dachte nach, dann räusperte er sich. „ZUKUNFT IST…

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Eine Postkarte ohne Unterschrift

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Die Dinge sind selten so, wie man sie sich zunächst vorgestellt hat. Das meiste hat in der Wirklichkeit wenigstens einen Haken, wenn nicht sogar mehrere. Von dem knusprigen Braten im Lokal bekommt man Sodbrennen, die neue Hose zwickt im Schritt, der kluge und schöne Mann, den man geheiratet hat, knirscht im Schlaf mit den Zähnen und auf der Frühlingswiese wird man von Ameisen gebissen. Auch ich selbst bin nicht so prächtig, wie ich dachte. Zum Lesen benötige ich eine Brille, die Gelenke knacken beim Treppensteigen und die Welt verstehe ich überhaupt nicht mehr. Darum vermeide ich die Realität, wann immer…

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Hinterhalt im Rosengarten

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Hildegard Magerkost war nach eigenem Empfinden beileibe keine Schönheit. Nur in ihrem Garten, umgeben von Rosen in allen Farben, Rosen aus Krepppapier, aus Porzellan, zwischen Hagebutten und Blüten fühlte sie sich akzeptabel. „Hilde, verrohe nicht!“, flüsterten ihr die Blumen zu. Doch das war leichter empfohlen als durchgeführt; wie Hildegard Magerkost zu ihrem Leidwesen feststellen musste, entwickelten die Rosen zunehmend autokratische Züge. Mit den Jahren sprossen in den Sträuchern und Büschen Kameras wie Knospen, der natürliche Duft wurde jede Saison ein bisschen mehr von billigem Parfüm ersetzt. Hilde vermisste den ursprünglichen Zustand des Gartens, ohne dass sie hätte sagen können, wann…

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Im Erdgeschoss der Ewigkeit

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Als junger Mensch will man hoch hinaus und sucht sich eine Wohnung möglichst weit oben. Die Gelenke sind geschmeidig und es stört einen nicht, die Einkäufe in die fünfte Etage zu schleppen, solange man die Dächer der Stadt im Mondlicht betrachten und einen Schnaps aus Schottland dazu trinken kann. Auch alte Leute wollen hoch hinaus, die möchten dann dem Hergott zu Füßen im Himmel auf einem Wölkchen sitzen. Dazu muss man allerdings ein gottgefälliges Leben geführt haben und das ist gar nicht so einfach. Zwischendrin will der Mensch nämlich allerlei Unfug, der eine modische Accessoires oder technischen Firlefanz, die andere…

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Die Heuchelmaschine

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Als die Heuchelmaschine noch funktionierte, war ich König dieser Welt und auch aller anderen Welten, die ich mir vorzustellen vermochte, und ich konnte mir einiges vorstellen. Ich konnte glaubhaft behaupten, dass die Wiese purpurn leuchtete, dass Seehunde in der Lage waren, komplexe mathematische Formeln zu lösen und, darauf basierend, die Fähigkeit besaßen, einfache barocke Menuette zu komponieren. Und die Leute? Glaubten alles, was ich ihnen vorsetzte. Sie doch auch. Lügendetektor? Ich glaube, Sie spinnen! Das ist doch was für Anfänger, Leute, die sich verunsichern lassen, die ihre eigenen Lügen und Heucheleien nicht glauben können – Amateure! Die Maschine öffnete mir…

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Blut und Boden spucken

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Normalerweise sage ich ja nichts zum aktuellen Weltgeschehen und zur Zeit, wo man ständig gegängelt wird, etwas zu sagen, weil, wenn man schweige, würde man automatisch zustimmen, sage ich extra nichts. Aber da ich gerade einen Katarrh habe und ohnehin pausenlos zähfließenden Schleim absondere, kann ich dem auch noch ein paar Gedanken hinzufügen. Der Mensch ist angefüllt mit Vorurteilen und hat gerne Recht. Zudem glaubt er, je mehr es ihn Schmerze, umso mehr Recht habe er. Da genügt oft schon ein eingewachsener Zehennagel und man denkt, man dürfe in Polen einmarschieren, nur weil einem die Sprachmelodie nicht zusagt, obwohl man…

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Kein Bier für Göring

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Aufgrund persönlicher Kalamitäten hatte ich mich Anfang der 90er Jahre gezwungen gesehen, eine Stellung beim lokalen Späti anzunehmen. Lange Geschichte, kurz erzählt: Dem Besitzer war zuvor der Papagei verstorben, und in meiner Branche, der höheren Literatur, fielen für mich als Bohèmien und Lebemann kaum mehr Brosamen vom damals eigentlich noch üppig gedeckten Tisch. So kam es, dass ich nun allabendlich hinter der Theke stand, wo zuvor der gefiederte Schreihals residiert hatte. ‚Kein Bier für Göring!‘ hatte er gekräht, Tag und Nacht, jahrzehntelang, eine monotone Litanei gegen das Vergessen. Niemand wusste genau, wie er darauf gekommen war; manche munkelten, ein alter…

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Durchs Weitwinkelsubjektiv betrachtet

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In letzter Zeit behaupten meine Freunde, ich hätte einen Tunnelblick. Da es mich tatsächlich hin und wieder beim Schauen zwickt, denke ich, mein Fokus ist vielleicht zu eng. Und enge Sachen mag ich mit zunehmendem Alter immer weniger. Also habe ich mir im Versandhandel ein Weitwinkelsubjektiv bestellt. Vorgestern ist es angekommen und zunächst war ich eingeschüchtert von der Größe des Pakets. „Die glauben doch nicht allen Ernstes, ich laufe mit so einem Riesending herum!“, habe ich gerufen, wie immer ohne zu wissen, wer „Die“ sind. Aber „Die“ hoffe ich dann endlich mit meinem Weitwinkelsubjektiv erkennen zu können, genau viele andere…

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