Das Leid

„Das Leid“, sagte der Mann, „lässt sich nicht messen. Denn das Leid ist eine persönliche Angelegenheit.“

Er ging mit schwungvollen Schritten den Bühnenrand entlang. In der Hand hielt er ein Kästchen, das durch Drücken der bunten Knöpfchen Bilder auf der Leinwand hinter ihm erscheinen ließ oder einen dünnen, roten Lichtstrahl ausspuckte, mit dem er auf wichtige Einzelheiten deuten konnte.

„Wer nichts Schlimmeres kennengelernt hat, dem beschert ein eitriger Backenzahn unermessliches Leid, auch wenn eben jener Backenzahn dem hungernden Sklaven nur eine kleine Unannehmlichkeit bedeutet.“

Er bleckte seine weißen Zähne, die gewiss nichts von Eiter wussten, und hob einen manikürten Zeigefinger.

„Das dürfen wir nicht vergessen!“

Auf dem Klappstuhl neben mir grunzte eine alte Dame unwirsch. Sie trug einen beigen Anzug mit hellblauen Streifen und hielt eine Handtasche fest umklammert. Als sie gewahr wurde, dass ich sie ansah, grunzte sie erneut.

Sie erhob sich, strich ihren Anzug glatt und brüllte: „Sie haben doch keine Ahnung, Sie aufgeblasener Fatzke! Leid kann präzise gemessen werden. Die kleinste Einheit ist ein Fad. 10 Fad sind ein Silbereisen, 100 Silbereisen sind ein Migran. 100 Migran sind ein Nagasak und 100 Nagasak ein Auschwitz. Das habe ich Ihnen bereits in der Mittelschule versucht beizubringen, aber Sie waren ein fauler Schwerenöter. Ich wusste, dass aus Ihnen nichts wird.“

Der Mann sah sich nervös um drückte auf eins der Knöpfchen. Leichte Musik ertönte, zwei uniformierte Sicherheitsmänner erschienen und schleppten die Dame hinaus.